Die grosse Welle
Übersetzt aus Invece, Nr. 4, April 2011, anarchistische Monatszeitschrift aus Italien, gefunden auf andiewaisendesexistierenden.noblogs.org.
Eines der berühmtesten Werke der japanischen Kunst ist die “grosse Welle“ des Malers Hokusai. Es stellt einen Tsunami dar, ein Wort, das “Hafenwelle“ bedeutet, und dessen japanische Herkunft beweist, wie sehr diese mächtige Manifestation der Natur für das Land der aufgehenden Sonne typisch ist. Der Künstler verweist, indem er hilflos wirkende Boote auf riesigen Wellen malte, auf die enorme Disproportion, die zwischen der Kraft der Natur und der Gebrechlichkeit der Menschen besteht.
Tokyo decadence
Japan ist eines der technologisch am weitentwickeltsten und folglich eines der energiebedürftigsten Länder der Welt.
Der Energieverbrauch pro Kopf ist in Japan zehn Mal höher als in Indien. Als einer der Hauptproduzenten elektronischer Energie weltweit ist, verfügt das japanische Land dennoch über keine eigenen Energiequellen. Von sich aus kann es nur gerade 10% seines Bedarfs mit Wasserkraft abdecken, während es für weitere 60% fossile Brennstoffe verwendet (Öl, Gas, Kohle), die es importieren muss. Dies hat einen so grossen Einfluss auf den weltweiten Erdölmarkt, dass der Produktionsstopp, der auf die kürzliche Katastrophe folgte, eine Senkung des Rohölpreises bewirkte.
Während der letzten Jahrzehnte musste Japan, aus Gründen der sogenannten „Energiesicherheit“, seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen reduzieren und die Energieversorgung diversifizieren. Der Zugang zu den Quellen fossiler Brennstoffe ist immer öfters an den Einsatz von militärischen Mitteln gebunden, er ist abhängig von der politischen Instabilität der Produktionsländer, dem Anstieg der Nachfrage nach Ölprodukten und dem kontinuierlichen Ausgehen der Reserven. Um also das Fortbestehen seines industriellen Systems zu sichern, musste sich Japan der kostspieligen und, in Anbetracht der geologischen Eigenschaften des Landes, äusserst gefährlichen Atomkraft anvertrauen. Heute hängt ein Viertel seiner Energieversorgung von dieser Energiequelle ab. 55 Atomkraftwerke stehen verstreut über eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt.
Japan ist ein Archipel, das sich beim Begegnungspunkt von drei beweglichen Platten der Erdkruste befindet (die Pazifische, die Philippinische und die Eurasische Platte). Aufgrund seiner Position ist es das Land, in dem die meisten Erdbeben verzeichnet werden. Tokio wird etwa alle 70 Jahre von einer sehr starken Erschütterung getroffen; 1923 wurde es von einem Beben komplett zerstört, das 100’000 Opfer forderte; laut zahlreicher Experten sei die Stadt, trotz moderner anti-erdbeben Konstruktionen, nicht darauf vorbereitet, ein ähnliches Ereignis zu überstehen.
Japan erstreckt sich über eine Fläche von 377’855 Quadratkilometern, auf der, mit einer 7 Mal höheren Dichte als der weltweite Durchschnitt, mehr als 127 Millionen Bewohner leben. Das städtische Gebiet von Tokio ist das grösste der Welt, es leben dort 35 Millionen Menschen. Jenseits des Zentrums, des pulsierenden Herzens der technologischen Zivilisation, und der anderen reichen Zonen, befinden sich riesige Ballungszentren für Arme. Ihre soziale Ausgrenzung geht so weit, dass die Orte, wo sie leben, nicht einmal auf den Katasterkarten eingezeichnet sind: sie sind der ineffiziente Teil des Landes.
Es wäre unmöglich, Hypothesen über ein alternatives Verwaltungsmodell einer Metropole aufzustellen, das nicht eine hohe Energieabhängigkeit und das Herbeiziehen ins städtische Zentrum der Ressourcen implizieren würde, die in einer enorm viel weiteren Umgebung produziert wurden.
Würde es nicht von einem konstanten Energiefluss versorgt, könnte ein städtisches System wie jenes von Tokio nicht existieren, nicht als Ort der techno-wissenschaftlichen Avantgarde und nicht einmal als einfacher Ort zum leben. Es könnte weder das Überleben seiner Bewohner, noch die Befriedung ihrer Grundbedürfnisse wie Trinken, Essen und Wärme garantieren. Ein langanhaltender Energiemangel würde zum Zusammenbruch des Systems, zur massenhaften Abwanderung der Bevölkerung und zum Risiko eines Bürgerkriegs führen. Eine Gefahr, die für die Herrschaft noch grösser ist, als die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung eines Teils der Bevölkerung infolge eines nuklearen Unfalls.
Ohne seinen Kranz aus Atomkraftwerken könnte Tokyo schwerlich funktionieren.
Momentan wissen wir nicht, wie die Explosion im Kraftwerk von Fukushima ausgehen wird, aber ein Unfall diesen Ausmasses, kann leider, im besten Falle, unmittelbar, sowie auf lange Sicht, schwere Auswirkungen für Tokio haben. Im schlimmsten Falle, was eine schwerwiegende Verseuchung der Stadt bedeuten würde, stünden wir einer nie dagewesenen metropolitanen Apokalypse gegenüber. Und trotzdem ist es wahrscheinlich, dass ganz Japan auch in Zukunft gezwungen werden wird, sich den Atomkraftwerken anzuvertrauen, und seine Bewohner werden sich daran gewöhnen müssen, mit erhöhten radioaktiven Werten zu leben.
Dieser Unfall hat nicht nur die mit der Atomkraft verbundenen Risiken ans Licht gebracht, sondern auch das Scheitern eines urbanistischen Entwicklungsmodells, dessen Paradigma Tokio war. Eine zum Scheitern verurteilte Urbanistik, die an ihren Explosionspunkt kam. Eine Lebenshypothese, die sich von den vom Kapital herbeigeführten, ökologischen Katastrophen befreien will, wird diese urbanistischen Modelle zurückweisen müssen. Doch wie, das ist eine noch gänzlich zu klärende Hypothese.
Die Explosion
„Aber solange die moderne Technologie weiter fortschreitet, wird es Katastrophen jeglicher Art geben, die vom Menschen hervorgerufen werden. Keine Regierungsaufsicht kann all diesen Katastrophen zuvorkommen, nicht nur, weil es immer Verantwortungslosigkeit, Nachlässigkeit und Fehler geben wird, sondern auch, weil die Einführung neuer Technologien unvermeidbare Konsequenzen mit sich bringt, die niemand, auch wenn man aufmerksam und verantwortungsvoll wäre, im Voraus erahnen kann. Darum kommen die Katastrophen für gewöhnlich aus unerwarteter Richtung. Je höher die entfesselte Kraft ist, desto grösser werden die Katastrophen sein.“
Ted J. Kaczynski
Während der letzten Jahrzehnte folgten drei gravierende und unendlich viele kleine nukleare Unfälle aufeinander. Uns genügt das, um zu sagen, dass es keine sicheren Atomkraftwerke gibt. Sicher sind die Kraftwerke nur in der Propaganda jener, die sie erbauen. Wenn sie explodieren, ist die Antwort stets dieselbe: „sie waren zu alt, sie wurden schlecht verwaltet, es ist Schuld der Natur“. Die Naturereignisse entwickeln sich nicht auf konstante und lineare Weise. Meistens geht die Natur in Sprüngen vor. In Wirklichkeit sind die sogenannten „aussergewöhnlichen Ereignisse“ normal. Bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem kürzlichen Erdbeben in Japan, dem Tsunami und der Explosion im Reaktor des Atomkraftwerks von Fukushima von einem aussergewöhnlichen Ereignis zu sprechen, macht keinen Sinn. Eine vernachlässigte Variabel als aussergewöhnliches Ereignis zu betrachten, in dem Moment, wo man sich einer aussergewöhnlich schädlichen Technologie anvertraut, ist in Wirklichkeit ein schlichter Betrug und ein Verbrechen von der Macht gegenüber der Bevölkerung. In Fukushima passierte, was passieren konnte, und was wahrscheinlich bereits im Kästchen der möglichen Variablen vorgesehen und vermerkt war, aber aufgrund des niedrigen Wahrscheinlichkeitswertes als hinnehmbar betrachtet wurde. Eine bis auf einen vorausgesehenen Spielraum sichere Entscheidung zu treffen, garantiert für nichts, wenn dieser Spielraum plötzlich hervorspringt – etwas, das in der Wirklichkeit geschieht und das die Statistiker wissen, aber bewusst verbergen.
Die Statistik soll beruhigen, verbirgt aber einen grossen Betrug: das Erscheinen des Unerwarteten auf der Szenerie wird vernachlässigt.
Die Vorstellung der Welt, die der Ideologie, die uns die Sicherheit der Atomkraftwerke verspricht, zugrunde liegt, ist die Vorstellung des Endes der Geschichte, des Triumphs des Kapitalismus, einer Plangesellschaft, die sich stufenweise, linear und voraussehbar Entwickelt: es ist eine falsche Vorstellung.
Realität ist, dass eine Welt, die zehn Jahren zuvor noch stabil wirkte, nach zehn Jahren instabiler als ein ausbrechender Vulkan sein könnte und dann sind die Voraussagen unserer mehrfach ausgezeichneten Wissenschaftler so viel Wert wie faule Eier.
„Eine menschliche Bevölkerung ist ein Beispiel einer Kettenreaktion. Sie wächst an, wenn im Durchschnitt in jeder Familie mehr als zwei Kinder erwachsen werden und eine neue Familie gründen; die Geburten müssen mehr als zwei pro Familie sein, denn einige Kinder sterben und andere vermählen sich nicht. Auf die gleiche Weise verzehrt beim Uranium jede Spaltung (ausser bei den sehr seltenen, spontanen) ein Neutron, und wenn die Spaltungsfragmente nicht mindestens ein neues Neutron ausstossen, kann es keine selbsterhaltende Kettenreaktion geben.“
Otto Robert Frisch, Los Alamos 1943-1945
Bei einer nuklearen Reaktion wird die ursprüngliche Materie, das Uranium, in etwas verwandelt, das nicht mehr Teil der Natur, sondern ein Erzeugnis des Menschen ist: das Plutonium, das giftigste aller Elemente. Auch die Herrschaft des Kapitals neigt dazu, sich zu verbreiten, indem sie das, was sie antrifft, in etwas verwandelt, das nicht mehr Teil der Natur ist.
Der Mensch, als ein dem Reich der Tiere angehörendes Wesen, kann in Gegenwart des Plutoniums nicht überleben. Von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, jenem des Kapitals, könnte man sagen, dass das Problem der Mensch ist, da er noch nicht fähig ist, in Neo-Umgebungen wie jener von Fukushima zu leben. Die Gentechnik arbeitet bereits daran, die Unannehmlichkeit zu lösen.
Ein System in stetigem Wachstum trifft früher oder später auf eine Grenze, jenseits derer der Kollaps eintritt: das System ist nicht mehr haltbar!
Ein Querlesen der zusammengefassten Daten, die wir über die Ökonomie, Geologie, Demographie und den Energieverbrauch von Japan aufgelistet haben, kann einem den Eindruck verschaffen, dass ein Entwicklungsmodell wie das japanische völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist: Im Verhältnis zwischen Verbrauch an Ressourcen und der Fähigkeit des Planeten, sich zu regenerieren, im Verhältnis zwischen Bevölkerungsdichte, hydrogeologischer Risiken und der Präsenz von gefährlichen Einrichtungen. Das Entwicklungsmodell, das Japan und den Rest der westlichen Länder reguliert, baut nicht auf den Konzepten von Harmonie und Ausgeglichenheit auf, sondern auf jenen von Disharmonie und Wachstum ohne Grenzen. Am Gipfel dieses Wachstums kann sich nur der Zusammenbruch des Systems ereignen.
Effizienz
1853 durchbrechen die amerikanischen Kanonenboote unter dem Kommando des Komodore Perry die Blockierung der japanischen Häfen. Das Kaiserreich, das sich bis dahin durch Verschliessung und Autarkie gegen äussere Einmischung wehrte, wurde somit mit Gewalt gezwungen, die Grenzen dem freien Markt zu öffnen.
Innerhalb weniger Jahre und den Westen kopierend, restrukturierte sich Japan unter der Führung des Kaisers Meiji in den militärischen und industriellen Bereichen und nähert sich den Sitten der europäischen Länder an.
Schon Anfangs 20. Jahrhunderts war es eine imperiale Macht im asiatischen Gebiet, die militärisch mit den Westmächten verglichen werden konnte. Infolge der im Zweiten Weltkrieg erlittenen Niederlagen wurde die militärische Stärke Japans redimensioniert.
Nach dem Nachkriegs-Wiederaufbau wuchs die Nation als Industriekraft heran, bis sie zur zweiten Weltwirtschaftsmacht wurde. Gegenwärtig ist sie die dritte, und, obwohl zwei drittel des B.I.P. aus dem Dienstleistungssektor kommen, hat es eine sehr starke Industrie, die führend in Sachen Automobilherstellung, Konsumelektronik und Schiffsbau ist.
Das Land der aufgehenden Sonne ist also trotz seiner geographischen Position ein westliches Land, eines der Länder, welches das westliche, techno-wissenschaftliche Entwicklungsmodell am besten repräsentiert.
Was den nuklearen Unfall in Fukushima betrifft, kann man gewiss nicht behaupten, dass er ein Ergebnis von Nachsichtigkeit oder Ineffizienz war, wie es jemand zu tun versuchte.Versuchen wir stattdessen die Hypothese in Betracht zu ziehen, dass es eben die grosse japanische Effizienz war, die diese Katastrophe verusachte.
Gerade ihre Effizienz, veranschaulicht durch die hervorragende Qualität ihrer High-Tech Industrie, ist eine der berühmten Eigenschaften der Japaner. Sie sind bekannt dafür, arbeitsam und sorgfältig und sprichwörtlich auf das Detail bedacht zu sein. Die japanischen Gebäude gehören zu den robustesten (in Japan ereignen sich jährlich 1’000 seismische Beben der Stärke 4 ohne relevante Schäden zu verursachen). Die Sicherheitsnormen sind die strengsten und die Technologie ist die fortgeschrittenste der Welt.
Es ist diese japanische Effizienz, die die Katastrophe herbeiführte, die Überschätzung der eigenen Mittel und die Unterschätzung der Kraft der Natur hat zum Unglück geführt. Die Atomkraftwerke explodierten, weil sie gebaut wurden, und nicht weil Zwischenfälle passieren.
Wenn man sagt, dass uns Japan „zwanzig Jahre voraus ist“, nun, dann ist es das heute auch in den Katastrophen. Was wir in diesen Tagen in den Fernsehern gesehen haben, ist die Zukunft, der wir entgegengehen. Die tragische Zukunft, die der kapitalistischen Gesellschaft bevorsteht. Eine Gesellschaft, in der sich die Vergiftung, die Ausbeutung und der Krieg stetig ausweiten. Eine dermassen zynische Gesellschaft, dass es ihr gelingt, in den Katastrophen Gelegenheiten zu finden, um zusätzliche Profite zu schlagen, in der die Kriege die Börsenkurse hochgehen lassen.
Je weiter dieses Entwicklungsmodell fortschreitet und je komplexer es wird, desto grösser wird seine Gebrechlichkeit. So passiert es, dass ein unvorhergesehenes Ereignis leicht eine Kettenreaktion auslöst: die Riesenwelle setzt simple Hydraulikpumpen ausser Betrieb, die ihrerseits die ausgeklügelten Atomkraftwerke ausser Kontrolle bringen, die schliesslich Millionen von Menschen tödlich bedrohen.
Wenn wir nicht gegen das rebellieren, was in Japan geschah, wenn wir akzeptieren, das die Sache weiterläuft wie zuvor, wenn wir uns erzählen lassen, dass solche Tragödien nicht mehr geschehen können, wenn wir uns davon überzeugen lassen, dass nur der Fortschritt der Technologie die Probleme lösen kann, dann sind wir dabei, uns darauf einzustellen, die neuen Überlebensbedingungen hinzunehmen, es hinzunehmen, mit den Verstrahlungen zu leben und uns neuen, immer grösseren und irreversibleren Katastrophen zu nähern.
Was in Fukushima geschah, ist also auch eine Warnung, es zeigt uns, was der Mensch ist und zu was er fähig ist, seine extreme Gebrechlichkeit und sein grenzenloser Allmachtswahn.
In seiner Tragik ist es eine wertvolle Gelegenheit, eine Gelegenheit, um die Augen zu öffnen, um sich bewusst zu werden, um jene zu bekämpfen, die diese Welt verwüsten, um aus dem konsumeristischen Lebensstil auszusteigen, um die kapitalistische Ökonomie und die techno-industrielle Gesellschaft zu zerstören, um die Verantwortung auf sich zu nehmen, die Dinge auf revolutionäre Weise zu verändern, das heisst, für eine neue Lebensweise. Vergeuden wir sie nicht.
P.