London Calling
Nach den Ereignissen auf den Straßen von London und in anderen Städten in England vor wenigen Wochen, ist in den letzten Tagen ein Poster mit dem Titel “London Calling” auf den Straßen von Berlin aufgetaucht.
Nachdem Mark Duggan am 4. August durch polizeiliche Todesschüsse sein Leben verlor, kam es zuerst in London, kurz danach auch in anderen Städten, zu kollektiven Ausbrüchen von Anwohner_innen, die sich das aneigneten, was ihnen tagtäglich als Notwendigkeit des Lebens vorgehalten wird.
London Calling
Am Donnerstag, den 4. August 2011, hat die Londoner Metropolitan Polizei Mark Duggan, 29, in Tottenham, im nördlichen London erschossen. Die Unfähigkeit der Polizei, Licht in die Umstände der brutalen Ermordung zu bringen, schürte das Feuer noch mehr und löste Londonweit und darüber hinaus Aufstände aus.
Wie nicht anders zu erwarten, haben die Medien mit Empörung und oft mit purem Unverständnis reagiert. Wir jedoch haben das schon lange Zeit kommen sehen und sind froh, dass es nun so gekommen ist.
Ob es möglich ist, die tatsächlichen Ursprünge solch eines Aufstandes zu identifizieren oder nicht ist nicht unbedingt wichtig. Die Polizei gab an, dass die „Vorfälle“ um ungefähr 20.30 Uhr des Abends begonnen hatten, als im Anschluss an eine Demonstration vor der Tottenhamer Polizeistation zwei Streifenwagen attackiert wurden. Die Demonstration war von Marks Freund_innen und Familie organisiert worden, um Antworten bezüglich des Todes ihres Angehörigen zu fordern.
Seitdem folgte ein Brandanschlag (auf Mülleimer, Autos und Gebäude) auf den nächsten, genauso wie eine Plünderung auf die nächste, als Teil eines Straßenkampfes, der sich innerhalb von Stunden über die Grenzen von Tottenham hinaus ausbreitete. Sonntag hatte sich der Massenprotest bereits bis in andere Bezirke im Norden Londons sowie nach Brixton, Peckham und sogar Croydon, im Süden der Stadt, ausgebreitet. Bereits in der dritten Nacht waren die Ausschreitungen keinesfalls mehr nur auf London begrenzt. Birmingham, Bristol, Liverpool und Nottingham hatten die Feuer des Aufstandes bereits zu spüren bekommen und das in einem Ausmaß, das in England seit den „Poll Tax (Gemeindesteuer) Aufständen“ (Massenunruhen 1990), nicht mehr vorgekommen ist. In der vierten Nacht eskalierte die Situation in Manchester, Salford, Wolverhampton, Gloucester und West Bromwich.
Wir sind angewidert von der Medienhysterie als Reaktion auf die Beschädigung und Plünderungen von Großunternehmen. Es ist einfach, die Plünderungen als banale Kriminalität abzutun, doch sie können auch auf andere Art verstanden werden. Die geltenden Gesetze zum Schutz von Eigentum sind dazu da, die Eigentümer_innen zu schützen, um die Besitzenden vor den Besitzlosen zu schützen. In Anbetracht der finanziellen und materiellen Beschränkungen, die unsere Leben definieren, ist es nicht erstaunlich, dass die Beteiligten sich entscheiden zunächst diejenigen Dinge zurück zu holen, die sonst nicht erreichbar wären, wenn wir einen Moment erleben, in dem die Kontrolle der Autoritäten, die wir nicht wollen und nicht respektieren, aussetzt. Uns wird beigebracht gehorsam zu konsumieren, Mensch erntet was mensch säht.
Wir sehen mit Freude zu, wie große (Lebensmittel-)ketten zerstört und geplündert werden. Aber wir sehen gleichzeitig keinerlei Sinn darin, lokale Zeitungskioske auszurauben und anzugreifen. Während wir nicht Zögern würden, die Polizei mit Gewalt von unseren Straßen zu vertreiben, dulden wir keine Angriffe auf Zuschauer_innen und Passant_innen und wollen auch nicht erleben, dass Häuser, in denen Menschen wohnen, angezündet werden.
Wir haben viele Fragen dazu, was in England stattgefunden hat und aktuell weiterhin stattfindet. Wir wollen sicherlich nicht jede Tat oder jede_n Akteur_in glorifizieren, aber wir sind dennoch solidarisch mit denen, die sich für die Revolte entschieden haben. Es ist von höchster Bedeutung, die Geschehnisse in ihrem sozialen und ökonomischen Kontext zu betrachten. Die systematische Herabwürdigung und Atomisierung von Arbeiter_innenvierteln durch die verschiedenen aufeinanderfolgenden Regierungen haben eine unzufriedene, wütende Jugend hervorgebracht. Der Mord an Mark Duggan war der Funke, der eine soziale Explosion bei diesen jungen Menschen ausgelöst hat, die das Gefühl haben, dass sie wenig zu verlieren haben.
Wir hoffen dass, nachdem die ersten Verlockungen von opportunistischen Plünderungen ihren Glanz verloren haben, sich die Aufmerksamkeit auf strategischere Ziele richten wird, durch deren Angriff die Staatsmacht weiter destabilisiert werden kann. Polizeistationen, Gerichte, Verwaltungsbüros und Gefängnisse bilden die Basis der vom Staat ausgehenden Gewalt und Brutalität und es sind auch diese Institutionen, unter deren Kontrolle die Strafen ausgeteilt werden, die über die Einzelnen verhängt werden, die sich dazu entschieden haben, Widerstand zu leisten.
Aber weder wir noch sonst jemand kann diese soziale Revolte kapern, anleiten, oder dirigieren. Die Stärke dieses Widerstandes liegt jenseits von Ideologien und sein Ausdruck kann und sollte nicht von Jenen, die das Ganze lediglich beobachten, in Schubladen gezwängt werden!