Brief von Tortuga im Hausarrest über sein solidarisches Fasten
Der Anarchist Luciano “Tortuga” Pitronello wurde am 1. Juni 2011 durch eine Bombe schwer verletzt. Er war dabei die Bombe in einer Filiale der Santander Bank in Santiago, Chile, abzulegen, als diese hochging. Am 7. August diesen Jahres wurde er aus dem Knast entlassen und am 15. August verurteilt.
übernommen wurde dieser Text von aufruhrblog.wordpress.com, übersetzt wurde er von Marco Carmenisch
Wenn das Feuer des Anarchismus
unsere Herzen nährt
(Wenn weder Grenzen noch Sprache noch Knäste uns trennen)
Ich schreibe etwas hungrig, mit leerem Magen aber vollem Herzen, auch falls ich sicher wäre, ich würde meinen Streik niemals mit dem vergleichen, was andere GenossInnen wohl durchmachen. Heute 10. Sept. 2012, in Hausarrest, bereite ich mich auf ein solidarisches Fasten von 48 Stunden vor (10. und 11. Sept.), ich denke es ist auch, natürlich, wieso ich diesmal das Fasten als Kampfmittel gewählt habe.
Ich beginne mit der Erklärung, dass ich das einsame Fasten einfach darum gewählt habe, weil ich schon lange einige mir seit einiger Zeit im Kopf rumgeisternde Reflexionen über einige repressiven Operationen aufschreiben wollte, die von den AnarchistInnen und Antiautoritären der ganzen Welt erlebt werden, und ich ergreife die Möglichkeit um mich mit GenossInnen im Hungerstreik der Operation „Ardire“ zu solidarisieren.
Ich finde es kläglich über Themen, Meinungen und Reflektionen sich auszudrücken, die uns nicht direkt und prioritär betreffen, darum habe ich entschieden wenn auch nur für einige Stunden den Hungerstreik der unterdrückten GenossInnen zu teilen, sie so spüren zu lassen, dass ich in jedem Moment bei ihnen bin, dass ihr Hungerstreik sich in meinem schüchternen Herzen auswirkt und dass, da ich in Hausarrest bin, ich mich sehr gut informieren konnte was dort so alles abläuft. Sie sollen wissen, dass ich mich in diesen Tagen, obwohl sehr minderheitlich, für sie im Agitationszustand befinde, dass ich von ihrem Hungerstreik rede und vor allem ihre Freiheit will.
Ich habe mich für zwei Tage Fasten entschieden weil der 10. Dezember genau der letzte Hungerstreiktag des Genossen Marco Camenisch (in der Schweiz eingesperrt), Sergio Maria Stefani, Stefano Gebriele Fosco und Elisa di Berardo (in Italien eingesperrt) ist, ich weiss nicht wirklich ob andere GenossInnen auch im Hungerstreik sind, auch sie grüsse ich, aber wie schon gesagt, es handelt sich um GenossInnen, die im Zuge der trübseligen AnarchistInnenjagd unterdrückt werden, die absurderweise „Operation Ardire“ genannt wird, und die weiteren sieben GenossInnen in dieser Razzia miteinbezieht, die meiner Ansicht nach vor allem ein Rundumschlag, aber nicht blindlings, gegen die anarchistischen Absichten sein soll, die beginnen zum lästigen Krebsgeschwür für das System und seine Logik auf italienisch, schweizerisch und deutsch beherrschtem Gebiet zu werden.
Ich finde es wichtig zu bemerkt, dass es im italienischen Staat eine bedeutende anarchistische/antiautoritäre Bewegung gibt, und ich meine das nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ist sie es nicht weniger, dass es in Deutschland und in der Schweiz zwei anerkannte Genossen hat, die trotz Jahren der Isolation imstande waren dem Kampf in den Gefängnissen und draussen beizutragen, was zu bemerken mir wichtig scheint, weil es nach meiner Beobachtung sicher ist, dass, wenn die „Operation Ardire“ ein Angriff von Wahnsinnigen war, so doch überhaupt nicht blindlings, sie haben die Verantwortlichen der Attentate, für welche die FAI die Verantwortung übernommen haben nicht gefangen, sie haben Personen gefangen genommen, die mit dem ideologischen Gesichtspunkt übereinstimmten (in den Augen der Behörden), und das verdient meiner Meinung nach wenn keine Debatte so doch eine minimale Analyse seitens der GenossInnen, nicht nur der unterdrückten, sondern insgesamt, von allen Personen aus denen die anarchistische/antiatoritäre Bewegung besteht, so diffus und gegensätzlich diese Bewegung manchmal erscheinen mag, die auch internationalistisch ist. Jenseits der kleinen Differenzen, die wir in unseren Positionen haben mögen, ist es äusserst wichtig zu verstehen, dass der banalste aller Sätze „es könnte allen passieren“ wirklich wahr ist, aber hier möchte ich ein wenig verweilen, denn ja wenn ich sage „allen“ beziehe ich mich auf alle, die ein Leben gegen das System und seine Werte führen, unabhängig von den Methoden, die sie einsetzen um sich ihm entgegenzustellen, ob es ein Gegeninfoblog oder eine Paketbombe gegen eine Botschaft sei, der soziale Krieg nährt sich von allem, denn wir dürfen nicht hoffen das System nur mit Kugeln zu stürzen, die illegalen Aktionen sind gut (vorausgesetzt sie beachten minimale revolutionäre Voraussetzungen) aber sie müssen notwendigerweise mit anderen Instanzen und Momente der Reflektion integriert sein, die unter GenossInnen geteilt werden müssen, um uns zu lieben, um im Alltag die Spannung zu erhalten und um Unterschiede, Wertschätzungen und Kritiken hervorzuheben, um so Richtung eines individuellen und kollektiven Wachstums voranzuschreiten.
Was ich hier alles sage erinnert mich sofort an die Hetze, die gegen 4 Genossen begonnen wurde, die effektiv in gleicher Art und Weise mit dem Profil übereinstimmten, wonach die Behörden nach dem Überfall auf eine Bank am 18. Oktober 2007 suchten, wo im Stadtzentrum von Santiago, Chile, ein Polizist getötet und ein weiterer verletzt wurde. Meiner Meinung nach ist es kein Zufall, dass sie versuchten Juan Aliste Vega mit der Person in Verbindung zu bringen, die auf die Bullen schoss, die versuchten die Räuber anzuhalten, es ist ja auch bekannt, dass Juan in den ’90gern schon mal wegen einem Vergehen gegen einen Polizisten in Gefangenschaft war, Zufall? Niemals! Die Repressionspolitik versucht zu unterwerfen, wenn es mit Terror und Aktionslosigkeit (legal oder illegal ausgedrückt) nicht funktioniert, dann durch Mobilitätsentzug indem sie dich in den Knast werfen, dasselbe ist mit Freddy Fuentevilla, Carlos Gutérrez und Marcelo Villaroel geschehen, Genossen mit einem anerkannten antikapitalistischen politischen Leben, und dann fragt man sich, warum es GenossInnen gibt, denen in Italien, der Schweiz und in Deutschland der Prozess gemacht wird? Weil sie ein Profil haben? Und wenn dem so ist, was sollte unsere Position gegenüber dieser Tatsache sein?
Ein weiterer ähnlich gelagerter Fall ist die Operation „Salamandra“, wo besetzte Häuser und autonome Räume durchsucht und geräumt wurden, wo viele GenossInnen Gewalttätigkeiten erleiden mussten, wo 14 anarchistischen und antiautoritären GenossInnen wegen „unerlaubten terroristische Vereinigung“, der Legung von mehr als zwanzig Bomben an verschiedenen Punkten der Hauptstadt von Chile und wegen Finanzierung terroristischer Praxis prozessiert wurden, die feige angezeigt, angeklagt, gefangen genommen und einem absurden und schlimmen Prozess unterzogen wurden, dessen Ziel bloss diese GenossInnen aus dem Kampf zu eliminieren war, aber dazu auch noch eine dichte Schleimspur der Angst und der Panik zu legen, gegen die Eröffnung und Betreibung eines Freiraums gegen jenem, der von der Herrschaft auferlegt wird, gegen die Knüpfung von Beziehungen mit Menschen, die dem System bekannt und von ihm fichiert sind, oder noch schlimmer, um die Leute dazu zu bringen den gleichen Diskurs zu führen wie der Feind um die Repression zu rechtfertigen, folglich enthüllt an diesem Punkt die Repressionswelle zwischen den Zeilen einiges. Es wird nicht versucht die AutorInnen der Bomben, der Banküberfälle oder die GenossInnen gefangen zu nehmen, welche die Attentate der FAI durchgeführt haben, dazu ist diese Praxis bloss der propagandistische und aufzuzeigen,dass wenn du einen bestimmten Lebensstiel annimmst, du ins Visier der Polizei, der Presse, der Bürger im Dienste der Macht geraten wirst, aber dass, wenn du dich für ein normales Leben entscheidest, du unbelästigt rumlaufen kannst. Unbelästigt? Unbelästigt wovon? Dass sie dich jeden Tag mit einer Scheissroutine erdrücken, welche dir die Kraft nehmen wird um ein Leben zu fristen, das wert ist gelebt zu werden? Wenn das für einige in Ruhe Leben heisst, dann lebe ich in aller Dummheit lieber ein libertäres Leben. Die Operation „Salamadra“, die Operation „Ardire“ oder die Anklagen gegen die Flüchtigen des „Falles Security“ unterscheiden sich in nichts, es gibt vielleicht Unterschiede in der Vorgehensweise des Feindes, der in einigen fällen Menschen anzeigt, die gewisse Räume frequentieren, und andere die vom Inneren der Gefängnisse kommunizieren und ihre Wertschätzung in der Form von Erklärungen und Briefen ausdrücken, oder noch andere die schlicht durch ihre subversive Vergangenheit belastet sind. In allen Fällen ist der gemeinsame Faktor, dass sie für die dringliche Notwendigkeit des Kampfes stehen, diese unbeugsame Energie, die gegen die Ungerechtigkeiten strömt, und dieser Wille, von dem ich spreche, den empfinden wir viele, sehr viele Menschen, und dann müssen wir begreifen, dass es gestern einige HausbesetzerInnen und GenossInnen mit kämpferischem Vorleben in Chile waren, heute sind es einige anerkannte sich im Krieg gegen die Autorität befindenden Blogs und Individuen in Italien, der Schweiz und in Deutschland, aber morgen können es alle und überall sein, wir sehen es in Bolivien mit dem Genossen Henry Zegarrundo und der Genossin Mayron Gutiéres, die des Terrorismus angeklagt und wegen der absurden Kollaboration infamer Wesen im Knast sind, wir sehen es in Griechenland mit dem Fall des Genossen Tasos Theofilou, der verhaftet wurde weil er Anarchist ist, das ist sein Verbrechen, wir sehen es paradoxerweise und wiederholt in Italien wo es mehr als vier Operationen gegen den sozialen Dissens gegeben hat, also liebe GenossInnen, ich glaube er ist auf Terror aus, um uns glauben zu machen, dass, wenn du einen besetzten Raum ins Leben rufst, die Repression dich treffen wird, dass, wenn du auf Briefe antwortest, sie dich als Leader einer bewaffneten Gruppe sein wirst, dass, wenn du von den Übeln dieser Scheisswelt sprechen wirst, dich die Polizeikollaborateure den Antiautoritäten auf dem Silbertablett servieren werden, dass, wenn du dich mit dieser oder jeder Person solidarisieren wirst, sie von Konspirationsnetzwerken sprechen werden, folglich meinen sie uns durch die Angst zu lähmen.
Vielleicht haben schon viele diese Überlegungen gemacht, aber ich habe die Angst gesehen und gespürt, kurz nach der Gefangennahme verschiedener Personen wegen dem „caso bombas“, die völlig zu diesen Schlussfolgerungen fähigen GenossInnen zogen es vor ein Konzert oder eine Initiative in einem Park durchzuführen anstatt in einem der wenigen übriggeblieben besetzten Räumen, Gründe zum Selbstbetrug finden sich immer, was sicher ist, ist dass wenigstens in Chile am 14. August der Macht ihr Auftrag zuzuschlagen (bis zu einem gewissen Punkt) gelungen ist, und ich glaube, dass das was die Macht wünscht bloss ein Akt des Verrates ist, mindestens ein Akt der Freiheit, wollen sie uns isolieren? Na, dann ist meine Antwort bloss: mir scheissegal! Ich werde den Gefangenen schreiben denen ich will. Sie wollen keine Räume der Rebellion in ihren monotonen Städten? Wir werden noch mehr besetzen. Sie wollen Gegeninfoblogs unterdrücken? Wir werden wenn nötig das Internet hacken, das denke ich sollte die Antwort nach repressiven Schlägen sein, indem wir uns mit den Unterdrückten solidarisieren und unsere Rufe der Freiheit in alle Windrichtungen erschallen lassen. Ich denke es ist wichtig diese Reflektionen Einschätzungen über die uns betreffenden internationalen Repressionsschläge zu teilen, um damit der Internationalen Revolutionären Front (FRI) mehr als nur einen gefühlsmässigen und tief empfundenen herzlichen Impuls zu verleihen, aber auch eine analytische Kraft gegen eine Realität, die uns ganz offensichtlich bedroht, nämlich die Repression in ihren verschiedenen Dimensionen und Blickwinkeln.
Wir werden aus dem denken/teilen bestimmter Reflektionen oder Analysen keine Vorteile ziehen wenn wir sie danach nicht verinnerlichen, notwendig ist aus unserem Diskurs eine Praxis, ein rebellisches Denken, ein rebellisches Sein zu machen!
Zum Glück ist es in diesen Landen möglich die Sicherheit um in ein besetztes/autonomes Sozialzentrum zu gehen nach und nach wieder zu gewinnen, um Diskussionen mit polizeilich eingetragenen Menschen zu führen, oder um irgend ein antagonistisches Projekt anzureissen, aber ich fahre fort zu denken, dass der zu beschreitende Weg noch lange ist, und es scheint mir seltsam, dass die Idee der Eröffnung einer Bibliothek in einem öffentlichen Raum schon fast Wahnsinn ist, oder ich schon fast absurderweise glauben muss die Repression würde gegen mich zuschlagen falls ich mich zu bestimmten Personen verhalte, und ich so tief fallen könnte jene anzuzeigen, die das Stigma tragen für zukünftige Verhaftungen verantwortlich zu sein, sogar.
Ich habe den 11. September um zu Fasten auch deshalb gewählt weil ich glaube es ist wichtig für eine starke Erinnerung zu kämpfen, eine die nicht vergisst, die nicht vergibt, die nicht verhandelt, denn am 11. September vor 39 Jahren begann einer der grausamsten Epochen der Diktatur in Lateinamerika, mit dem Inquisitor Augusto Pinochet als Chef einer unerbittlichen Militärmaschine im Dienste der Reichen, wir dürfen alle jene nicht vergessen, die von der Diktatur getötet wurden, wir dürfen die verschwundenen Gefangenen (zugunsten welchem Regime auch immer, ob es nun Diktatur oder Demokratie genannt wird) nicht vergessen, wir dürfen nicht vergessen, dass wegen diesen Geschehnissen auch heute viele erneut ihre Stimme erheben.
Ich habe dieses Fest gewählt weil ich nicht umhin kann daran zu erinnern, dass es ebenfalls ein 11. September war, 1998, als die anarchistische Genossin Claudia López von einer mutigen Figur in der Uniform der Karabinieri Chiles im Stadtteil La Pincoya von hinten erschossen wurde, jetzt wäre Claudia vielleicht mit uns, wäre eine jener Genossinnen mit grosser Erfahrung im minderheitlichen Kampf und auf der Strasse, wir erinnern daran, dass sie in den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und den „Vermummten“ im sogenannten „Cordón Macul“ dabei war, das war Claudia, eine Genossin, die sich auf die Tanzfläche und die Barrikaden stürzte, und die verfluchten Bastarde im Dienste der Macht haben sie uns für immer genommen, darum, aus der Frustration heraus dass ich wegen einem Elenden der sie ermordet hat nichts mit ihr habe teilen können, darum werde ich am 11. September fasten.
Ich habe den 11. September gewählt weil an diesem Tag der Justizprozess gegen einen verletzten Anarchisten in Mexiko beginnen wird, gegen einen Genossen der Aktion, dem eine Brandbombe zu früh explodiert ist, in einem ähnlichen Unfall wie bei mir, Mario Lopez, Bruder: ich bin bei dir, sei stark!
Diese Worte sind von einer besonderen Widmung für alle genannten GenossInnen begleitet, den unterdrückten GenossInnen in Italien, der Schweiz und in Deutschland der Operation „Ardire“, der Operation „Mangiafuoco“, der Operation „Oxididae“ und „Thor“, allen anderen in Italien unterdrückten GenossInnen, allen in der Operation „Salamandra“ und im „Fall Security“ in Chile angeklagten GenossInnen und mit grosser Herzlichkeit dem anarchistischen Genossen Mario Lopez, in Mexiko verhaftet.
In Gedenken auch an alle KämpferInnen, die im Kampf gegen die Diktatur von Pinochet und jener der folgenden Demokratie gefallen sind, vor allem zu Ehren von Claudia Lopez.
Ich ergreife diese Gelegenheit auch um allen Menschen zu danken, die mich in dieser harten und schwierigen Etappe meines Lebens begleitet haben, materiell oder nicht ist nicht wichtig, sie wissen was ich meine, aber ich bin ihnen sehr dankbar.
Für mich geht der Kampf drinnen und draussen weiter!
Keine Minute des Schweigens!
Ein ganzes Leben im Kampf!
Schwarzer September!
Luciano Pitronello Sch.
Insurrektionalistischer Politischer Ex-Gefangener