„Noch viel vor“
In der Wochenzeitung der Freitag erschien vor ein paar Tagen ein Artikel über die Lebenssituation von entlassenen Gefangenen.
Klaus Engels saß sechs Jahre lang im Gefängnis. Im Dezember wurde der 68-Jährige entlassen. Der “Freitag” hat ihn auf seinem Weg zurück in die Gesellschaft begleitet
Das erste Treffen mit Klaus Engels findet in einem Café in Berlin-Mitte statt. Vor einer Woche wurde der Mann mit dem dichten, grauen Haar aus dem Gefängnis entlassen, jetzt sitzt er vor einer Tasse Kaffee und erzählt. Am Ende seiner Haft, sagt er, ging es nach all den Tagen des Wartens plötzlich ganz schnell. Schon eine Weile war er im offenen Vollzug, konnte sich tagsüber außerhalb der Gefängnismauern bewegen – dennoch: Frei war er nicht. Wer zu den Schließzeiten nicht pünktlich zurück in der Justizvollzugsanstalt (JVA) war, lief Gefahr, aus dem offenen wieder in den geschlossenen Vollzug zurückversetzt zu werden. Eine furchterregende Vorstellung für die Gefangenen.
Engels hatte gerade Freigang, als er einen Anruf auf seinem Handy bekam. Ein JVA-Beamter war dran: „Sie müssen sofort zurückkommen, wir müssen Sie entlassen.“ Das notwendige psychologische Gutachten war lange Zeit nicht bearbeitet worden, nun war es plötzlich ausgestellt. Für Freude, sagt Engels, hatte er aber erstmal keine Zeit. Er musste seine angesammelten Dinge, vor allem Kleidung, aber auch Alltagsgegenstände wie etwa sein Kochgeschirr, noch am selben Tag packen und mitnehmen. 15 kleinere und größere Kartons verfrachtete er in ein auf einen Freund angemeldetes Auto. Das war im Dezember 2012. Seitdem ist er damit beschäftigt, sich wieder in der Welt zurechtzufinden. Der Freitag hat ihn ein Stück dabei begleitet.
Engels hat insgesamt sechs Jahre in verschiedenen Haftanstalten verbracht. Der 68-Jährige gehört zur steigenden Zahl Strafgefangener, die in einem Alter entlassen werden, in dem andere Menschen bereits seit Jahren ihren Ruhestand genießen. Der Weg zurück in die Gesellschaft ist für keinen Entlassenen einfach, für ältere Menschen ist er aber besonders schwierig. Viele resignieren in Anbetracht fehlender Perspektiven. Sie ziehen sich aus der Welt zurück, verfallen in Schweigen oder landen wieder im Gefängnis. Und die meisten wollen nicht über ihre Verurteilung, ihre Haft und die Zeit danach sprechen.
Klaus Engels ist da anders. Er blickt nüchtern auf seine Haft und spricht sehr offen. Allerdings entspricht er auch nicht dem Stereotyp des an Bildung armen, an Tattoos dafür umso reicheren Knackis. Engels ist gelernter Metallurge und Chemiker. Er redet eloquent und wirkt sehr höflich. Er sagt, er habe sich früher immer im wohlhabenderen Milieu bewegt: „Ich habe in einem Umfeld gelebt, da ging es nie um Knausereien.“ Dann zieht er seinen Entlassungsschein aus der Tasche. 181,56 Euro gesteht ihm der Staat für seinen Neuanfang zu, das Entlassungsgeld. „Das ist doch ein Scherz“, sagt Engels. „Wie soll ein Mensch so je wieder auf die Füße kommen?“
Er ist 62, als er verhaftet wird
Engels beantwortet viele Fragen, ohne dass man sie überhaupt gestellt hat. Die zahlreichen Geschichten aus seiner Vergangenheit überlagern sich dabei, scheinen sich mitunter gegenseitig zu widersprechen. Wie sein Leben vor dem Gefängnis aussah, lässt sich deshalb nicht eindeutig rekonstruieren. Er sei Geschäftsmann gewesen, sagt Engels. Verhaftet wurde er in Berlin im September 2006, damals war er 62. Er wurde zu einer neunjährigen Haftstrafe wegen Geldwäsche und Drogenhandels verurteilt. Damals lebte er in Spanien. Er erzählt, er habe eine größere Summe für Bekannte angelegt, sich aber nicht über die Herkunft des Geldes informiert. „Für mich waren das Immobilienleute, da habe ich nicht groß nachgefragt.“
2003 flog ein größerer Kokainhändlerring in Spanien auf. Engels wurde ihm zugerechnet, obwohl er bestritt, je etwas mit Drogen zu tun gehabt zu haben – das von ihm angelegte Geld hatte es aber zumindest. Über die Haftstrafe für die Geldwäsche hat Engels sich auch nie beschwert. „So ist das nun mal vor deutschem Recht“, sagt er. Aber es hat ihn trotzdem wie einen Hammerschlag getroffen, vor allem auch, weil zudem sein gesamter Besitz gepfändet wurde.
Die längste Zeit seiner Haft, drei Jahre und sechs Monate, verbrachte Engels in der JVA Tegel – zunächst in einer 5,3 Quadratmeter großen Zelle ohne abgetrennte Toilette. 2009 entschied der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, dass diese Unterbringung gegen die Menschenwürde verstoße. Ja, sagt Engels, die Zustände dort seien teilweise „widerlich“ gewesen. Weil er den Großteil der Haft nicht arbeitete, versuchte er an möglichst vielen Angeboten wie Töpfer- oder Schachkursen teilzunehmen – um nicht 23 Stunden am Tag allein in der Zelle zu sitzen. Alles war besser als diese Eintönigkeit. Schließlich ging er sogar zur Bibelstunde. Und wie verbringt man die Stunden in der Zelle? „Mit Fernsehen und Lesen.“ Seine Antwort wird plötzlich einsilbig – als wolle er lieber nicht daran erinnert werden.
Vor dem Haftantritt hatte er sich vorgenommen, sich nicht gegen die Strafe aufzulehnen, sondern sie zu akzeptieren. „Demut und Geduld waren meine Grundsätze, ohne die ich die Zeit nie überstanden hätte“, sagt er. Und er engagierte sich. Die meisten Informationen über Rechte und Möglichkeiten würden den Inhaftierten vorenthalten, hinzu kämen bei vielen Gefangenen noch Sprachschwierigkeiten, erzählt Engels. Deshalb schrieb er zusammen mit anderen Inhaftierten einen kleinen Ratgeber. „Gefangene für Gefangene“ nannte sich das Projekt. Als er in dem Café davon erzählt, klingt Stolz in seiner Stimme mit. Das Projekt gibt der vielen toten Zeit in der Haft wenigstens ein kleines bisschen Sinn.
Beim zweiten Treffen mit Engels, knapp einen Monat später, schlägt er ein Café in Neukölln vor. Dort gehe er ab und zu frühstücken. Er berichtet von ersten Erfolgen, aber auch von einer Demütigung in seinem neuen Leben. Er habe mit seiner Wohnung großes Glück gehabt, erzählt er. Kurz nach seiner Entlassung hörte er von einem Bekannten von einer freien Wohnung in Neukölln. Der Vermieterin habe er nicht verschwiegen, wo er die letzten Jahre verbracht hatte: „Das lässt sich nicht verheimlichen, außerdem wirkt man sonst nur unglaubwürdig.“ Er hat die Wohnung trotzdem bekommen.
Viele Ex-Inhaftierte machen andere Erfahrungen. Engels sagt, er sei froh, dass er nicht wie so viele nach der Haft zunächst einen Schlafplatz bei einer sozialen Einrichtung in Anspruch nehmen musste. Oft bleibt den Betroffenen aber nichts anderes übrig, weil Vermieter sofort abwinken, wenn sie von der Gefängnisvergangenheit erfahren.
Ansonsten habe er im vergangenen Monat viel Zeit mit Behördengängen verbracht, erzählt er. Direkt nach seiner Entlassung stellte er einen Antrag auf Grundsicherung. Früher wäre das für ihn undenkbar gewesen: „Ich bin ein Mensch, der in seinem ganzen Leben noch nie mit Behörden zu tun hatte. Ich habe nie irgendeine Unterstützung oder irgendwas gebraucht.“ Es tat ihm weh, dass das nun anders war. Weil er auf die Unterstützung angewiesen ist, setzt sich das im Gefängnis vermittelte Gefühl der Unmündigkeit auch draußen auf anderer Ebene für ihn fort. Nach Abzug der Miete und der Verrechnung seiner Rente bekommt er nun 352 Euro vom Amt.
Ohne seine Freundin, die ihm bei dem Nötigsten unterstützte und ihm auch ein Auto geschenkt hat, hätte er, sagt Engels, weitaus größere Probleme mit seinem Neuanfang gehabt. Sie war eine der wenigen Personen, zu denen er in den sechs Jahren im Gefängnis konstant Kontakt hatte. Dass die Beziehung das Gefängnis überstand, war für ihn ein großes Glück. Aber er machte sich auch immer wieder Sorgen, dass seine Freundin aufgrund ihres Knacki-Freundes diskriminiert werden könnte: „Das Umfeld draußen wird mehr bestraft als man selber, der man ja isoliert ist.“
Gelbes Sofa, gelbe Vase, gelbe Blumen
Beim dritten Treffen, fünf Monate nach seiner Entlassung, lädt Engels in seine Neuköllner Einzimmerwohnung ein – nicht ohne zu erwähnen, dass diese in ihrer Schlichtheit selbstverständlich nicht mit den Wohnungen aus seinem früheren Leben zu vergleichen sei. Die Wohnung hat einen kleinen Balkon, er spricht nur von der „Loggia“. Gelb dominiert die Einrichtung. Knallgelb ist das Sofa, die Tischdecke des Esstisches und die Decke, die er über den Packkarton gelegt hat, den er als Couchtisch benutzt. Darauf steht eine gelbe Vase, darin gelbe Plastikblumen. Woher kommt seine Vorliebe für diese Farbe? „Ich bin ein Mensch, der Tristheit und Dunkelheit nicht leiden kann“, sagt er.
Engels will positiv denken, nach vorn schauen, sich nicht kleinkriegen lassen, aber, fügt er hinzu, das sei nicht leicht. Während der Haft hatte er verschiedene Krankheiten an Bein und Knie – abseits von Tabletten sei es sehr schwer im Gefängnis eine Behandlung zu bekommen. Er habe dort am Schluss regelmäßig neun verschiedene Tabletten eingenommen. Sein jetziger Arzt habe ihm sofort sieben davon weggenommen. Sie seien überflüssig bis schädlich. Jetzt wartet er auf eine Knie-Operation, nach der er wieder schmerzfrei laufen können will.
Welche Träume hat er für die Zukunft? Er würde gern wieder heiraten, sagt er. Aber dafür müsste er seiner Partnerin natürlich etwas bieten können. An ein gemeinsames Leben in seiner Einzimmerwohnung sei ja nicht zu denken. Zu ihr ziehen möchte er aber auch nicht, das sei ihm unangenehm. Er wolle seine Freundin finanziell absichern können, betont er. Nur wie das gehen soll, kann er noch nicht sagen.
Zu einem ehemaligen sowie einem aktuell Inhaftierten hält Engels noch Kontakt. Sie zählt er zu seinen Freunden. Ansonsten liege die Gefängniszeit aber wirklich hinter ihm. Am meisten Sorgen mache ihm nun, dass er in Deutschland nie wieder Fuß fassen können werde, sagt er. Engels hat noch Schulden von seinem Prozess und einem psychologischen Extra-Gutachten, das er auf eigene Kosten bestellte. Alles, was er verdiente, würde sofort gepfändet. Deshalb – und nicht wegen seiner Knastvergangenheit – fühle er sich stigmatisiert, erklärt er. „Wenn man was anfangen will, wird nun sofort der Riegel vorgeschoben. Die Katze beißt sich da immer wieder in den Schwanz.“
Er wolle aber auf jeden Fall arbeiten, sagt Engels – nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern auch weil das für ihn einfach dazugehöre. Er sehe seine Zukunft deshalb eher im Ausland. Er habe noch Kontakte in die USA, nach Frankreich, England und Spanien. Er gefällt sich in der Rolle des kosmopolitischen Geschäftsmanns. Es sind Sätze, die für die kleine Neuköllner Wohnung, wo an der Wand ein Pappmodell von Londons Big Ben steht, einfach zu groß wirken.
Eine Idee von der Zukunft
Mitunter, räumt Engels ein, zweifele er auch selbst, ob ein solcher Umzug in seinem Alter überhaupt noch realisierbar sei. Und ob er gesundheitlich wieder fit genug dafür werde. Aber dann erzählt er gleich weiter von einer seiner neuen Geschäftsideen: Gebrauchtwagen nach China exportieren.
So wie er es erzählt, wirkt es aber nicht so wichtig, ob die Verwirklichung der Idee kurz bevorsteht oder doch eher in weiter Ferne liegt. Am wichtigsten scheint es im Moment für ihn zu sein, überhaupt eine Idee von der Zukunft zu haben. Von seiner Zukunft.
Johannes Spohr ist freier Autor in Berlin und bloggt unter preposition.de.
Kein übergreifendes Konzept
Die Zahl der älteren Inhaftierten ist in Deutschland in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Zwischen 1994 und 2005 hat die Zahl der männlichen Inhaftierten über 60 laut Statistischem Bundesamt um mehr als 200 Prozent zugenommen. Inzwischen wird seitens der Behörden diskutiert, ob ältere Inhaftierte getrennt untergebracht werden sollten, wie dies in Singen am Bodensee bereits der Fall ist. Dort befindet sich eine Außenstelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Konstanz. Im bisher einzigen „Seniorenknast“ Deutschlands sitzen etwa 40 Insassen, die älter als 62 sind, ihre Strafe ab. Mehrere JVAs besitzen auch spezielle Trakte für ältere Menschen, ein übergreifendes Konzept gibt es bislang aber nicht.
Gemäß Paragraf 41 des Strafvollzugsgesetzes sind Strafgefangene und Sicherungsverwahrte bis zum Rentenalter zur Arbeit verpflichtet. Ein Verstoß hiergegen kann disziplinarisch, zum Beispiel mit dem Entzug von Vergünstigungen (Fernseher in der Zelle oder ähnlichem), geahndet werden und führt zudem dazu, dass man die Gefangenen zur Zahlung von Haftkosten heranzieht. Trotz der Arbeitspflicht sind die Gefangenen während der Haft aber nicht rentenversichert. Das führt dazu, dass der Rentenanspruch von Menschen, die mehrere Jahre in Haft waren, sich drastisch verringert. Vor allem bei der Entlassung und Wiedereingliederung Älterer ist das ein Problem.
Ein wichtiges Thema für ältere Inhaftierte ist auch die medizinische Versorgung: Gefangene haben keine freie Arztwahl und sind somit auf die Anstaltsärzte angewiesen. In komplizierteren Fällen werden sie aber in Haftkrankenhäuser verlegt. JS