Basta sfratti! – Broschüre zu den Kämpfen gegen die Zwangsräumungen in Turin
Im Rahmen der Infoveranstaltung am 8. November in Berlin über die Kämpfe gegen die Zwangsräumungen in Turin, wurde vor ein paar Tagen eine Broschüre veröffentlicht. Ziel dieser ist es nicht nur einen Austausch, bzw. tieferen Einblick in die Auseinandersetzungen zu ermöglichen, sondern Fragen aufzuwerfen die auch hier unter den Kämpfenden von Bedeutung sein können. Fragen bezüglich den Möglichkeiten unkontrollierte Räume zu schaffen, Fragen der Repräsentation und der Bedeutung von Selbstorganisierung, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe innerhalb eines Kampfes.
Infoveranstaltung zu den Kämpfen gegen die Zwangsräumungen mit zwei GefährtInnen aus Turin:
8. November 2013 /// 19 Uhr /// SfE im Mehringhof /// Berlin-Kreuzberg 61
Die Broschüre findet ihr in gedruckter Version in diversen Buchläden, wie auch auf der Veranstaltung selbst. Außerdem ist sie als PDF verfügbar. Hier das Vorwort:
Basta sfratti!
-Schluss mit den Räumungen!
So lautet eine der bekanntesten Parolen, die den selbstorganisierten Kampf in Turin gegen Zwangsräumungen begleitet hat.
Seit ungefähr zwei Jahren kämpfen GenossInnen, bedrohte Familien, illegalisierte MigrantInnen gegen eine der hässlichsten Materialisierungen des Elends innerhalb einer durch das Kapital regierten Gesellschaft. Eine, die den Menschen in seiner Existenz grundlegend angreift, die Verweigerung der Möglichkeit, ein Dach über dem Kopf zu haben. Seit mehreren Jahren nehmen überall Kämpfe um die Aneignung des Wohnraums oder der öffentlichen Plätze zu. Gegen Gentrifizierungsprozesse und für die Erhaltung und Verteidigung der eroberten Räume und Plätze, gegen die Logik des Kapitals und der Verwertung wird in Berlin, in Istanbul und eben auch in Turin gekämpft.
In Berlin fanden während den letzten Jahren viele Aktionen zu diesem Thema statt. Neben der Entstehung von vielen Stadtteilinitiativen und lokalen Kämpfen breitete sich während der letzten Jahre der Widerstand gegen die Zwangsräumungen aus, der uns einige spannende Zeiten und Inspirationen geschenkt hat. Wir haben von den Kämpfen in Turin gehört und entdeckten eine sofortige Affinität mit den dort verbreiteten Diskursen und Praxen: Kritik an festen, formellen Organisationen, Zusammenkommen durch offene Plena, Feindseligkeit gegen autoritäre und vereinnahmende Tendenzen sind nur einige Beispiele.
Deshalb entschlossen wir uns, einen tieferen Blick darauf zu werfen und durch diese Broschüre (sowie eine Veranstaltung mit GenossInnen von dort) die Möglichkeit(en) anzubieten, sich ein wenig mit diesen Ideen und Praxen auseinanderzusetzen. Ein Austausch der unterschiedlichen Kampferfahrungen ist für uns immer begrüßenswert, denn es macht uns Spaß neue Konzepte zu entdecken und die eigenen zu hinterfragen. Sicherlich lässt sich das nicht eins zu eins übertragen. Wenn in Turin 150 Menschen gegen eine Räumung protestieren und die Straße verbarrikadieren, greift die Polizei oft nicht an und die Räumung wird verschoben. Da die Kräfteverhältnisse, aber vor allem die Polizeistrategie, hier anders sind (was wir unter anderem am 14. Februar 2012 in der Lausitzer Straße in Kreuzberg gesehen haben) mussten die Aktionen dezentral organisiert werden, um durch Unkontrollierbarkeit und subversive Kreativität den Feind zu verwirren und in Schwierigkeiten bringen. Die Ausbreitung dieser Proteste und vor allem die Erhöhung der Bereitschaft vieler Menschen hier, über die Grenzen der gegebenen Gesetze zu gehen (zum Beispiel durch Massenbesetzungen oder eine gemeinsame Verteidigung gegen die polizeilichen Angriffe) liegt uns am Herzen.Dies sehen wir als wichtigen Ansatz, der eine ständige Herausforderung für uns darstellt, nicht nur beim Kampf gegen Umstrukturierung.
Solche Selbstverständlichkeiten begleiteten die italienische Bewegung schon seit vierzig Jahren. In Italien entwickelte sich schon in den siebziger Jahren ein heftiger Kampf um den Wohnraum. Um eine Antwort auf die Wohnungslosigkeit zu finden, fingen tausende Leute an zu besetzen, wie zum Beispiel in Großstädten wie Rom, das seit den sechziger Jahren in den Händen weniger Spekulanten und Bauherren ist. In Italien werden fast alle Bauaufträge zwischen den regierenden Politikern, den großen Bauherren und der lokalen Mafia verschoben. Die Stadtplanung gesamter Städte ist auf diese Art und Weise bestimmt worden. Wir erinnern hier nur kurz an den Aufstand von San Basilio 1974, wo nach der Ermordung des Genossen Francesco Ceruso durch die Polizei, diese die besetzten Häusern mit Gewalt räumen wollte und sich daraus eine tagelange Belagerung des Viertels entwickelte. Die Polizei auf der einen Seite, die militanten BesetzerInnen auf der anderen, die auf die Gewalt der Polizei mit Schusswaffen antworteten. Die besetzten Häuser konnten sich halten und dieses Viertel ist noch heute durch die damaligen (mittlerweile legalisierten) Häuser und Neubesetzungen geprägt.
Die Zusammensetzung der BesetzerInnen war damals sehr gemischt, denn es gab GenossInnen aus unterschiedlichen Spektren, Familien, Proletarier, MigrantInnen (damals die Menschen die von Süd- nach Norditalien migrierten). Die Bewegung integrierte sehr verschiedenen Menschen und kämpfte entschlossen gegen den Staat und viel Repression. Dieses Erbe ist in den Jahren nicht verloren gegangen.
Seitdem ist die Praxis der Besetzung von Häusern in den meisten Teilen des Landes nach wie vor stark verbreitet. Gerade während der vergangenen Jahre, in denen die „Krise“ Italien mitunter hart getroffen hat, erfuhr die Besetzung von Häusern eine neue Renaissance. Viele Menschen können sich die explodierenden Mieten nicht mehr leisten oder die Hypotheken ihrer Häuser nicht mehr finanzieren. An dieser Stelle sei angemerkt, dass im Gegensatz zu Deutschland die Quote der Hausbesitzer gemessen an der Gesamtbevölkerung prozentual in Italien sehr hoch ist, in manchen Städte erreicht sie 80%. Turin stellt mit einem Verhältnis 50 zu 50 von Mietwohnungen und Eigentum eher eine Ausnahme unter den Großstädten dar.
In vielen Städten existieren seit mehreren Jahren Strukturen, eine Art von Komitees, die sich um die Besetzungen kümmern. Solche Komitees werden meistens durch lokale Aktivistinnen organisiert. Es gibt eine Art von „Besetzungsbüro“ wo Mensch hingehen und Unterstützung bekommen kann, wenn man ein Obdach sucht oder zwangsgeräumt worden ist. Die AktivistInnen kümmern sich darum, einen besetzten oder zu besetzenden Ort für die Suchenden zu finden. Im Gegenzug werden die Suchenden um Unterstützung für die politischen Projekte der AktivistInnen gebeten oder es wird beispielsweise Anwesenheit bei eignen Aktionen eingefordert. Es geht dort nicht darum, gemeinsam in einen selbstorganisiert Kampf einzutreten, sondern die Menschen der Komitees bestimmen die Art und Weise der Kämpfe. Die Möglichkeiten zur Einflussnahme der Betroffenen sind oft relativ gering. Die Betroffenen werden instrumentalisiert und zum Teil als Fußvolk betrachtet; die gestellten Strukturen zielen eher auf eigenen Machterhalt als darauf, selbstorganisierte Prozesse anzustoßen. Die Komitees sind meistens sehr autoritär organisiert, mit klaren Führungsverhältnissen; es gibt keine Scheu mit den bürgerlichen Medien zu kooperieren oder sich mit PolitikerInnen an den berühmten runden Tisch zu setzen.
Die politische Zusammensetzung solcher Komitees variiert von Stadt zu Stadt, abhängig von den dort herrschenden Verhältnissen. Manche Komitees basieren auf Strukturen der ehemalige „Autonomia Operaia“, andere sind eher bestimmt von den übriggebliebenen Teilen der „Disobbedienti“.„Disobbedienti“ entstand aus einem Flügel der „Autonomia Operaia“ Anfang der neunziger Jahre und versuchte über viele Jahre die Proteste im Land zu dominieren. Autoritäre Herangehensweisen gegenüber anderen aktiven Menschen, vor allem AnarchistInnen, Führungsansprüche innerhalb der Bewegung und schließlich die Kanidaturen von einigen Aktiven bei Wahlen machten sie schnell recht unbeliebt, auch international. Sicherlich gibt es auch Menschen, die in diesen Strukturen mit dem Herz auf der richtigen Seite aktiv sind, Selbstkritik hört man allerdings recht selten.
Gegen eine solche Logik versuchen z.B. GefährtInnen in Turin einen anderen Weg zu gehen. Animiert durch die Ideen der Selbstorganisierung, direkte Aktion, Ablehnung von reformistischen Ansätzen oder Instrumentalisierungsversuchen, kämpfen sie in den Vierteln von Barriera di Milano und Porta Palazzo zusammen mit anderen Betroffenen gegen die Polizei und Stadtverwaltung. Diese zwei Viertel sind aus mehreren Gründen gewählt worden: Ehemalige proletarische und widerständige Stadtteile in den Jahren der Versuche, „den Himmel zu stürmen“ (ein Ausdruck, der den Kampf ums Ganze in den siebziger Jahren in Italien beschreibt) und Schauplatz unzähliger Kämpfe, Aneignungsaktionen und Akten der Verweigerung; haben ihren Charakter nicht ganz verloren und sind in diesen Jahren zu einem Symbol auch gegen die Stadtumstrukturierungsprozesse geworden.
Angetrieben werden die Kämpfe heutzutage oft von illegalisierten MigrantInnen, die in großer Zahl diese Bezirke bewohnen und lebendig halten, oft nachdem sie aus den dortigen Abschiebeknästen ausgebrochen sind. Die Kämpfe um die Abschiebeknäste, die in Turin durch anarchistische GenossInnen intensiv verfolgt und mitgestaltet worden, haben dort einen sehr fruchtbaren Boden für neue Aktionen bereitet. Die gemeinsamen Besetzungen von Häusern sind nur ein Beispiel dafür; sie profitieren von Bekanntschaften, gemacht während der gemeinsamen Kämpfe gegen die Abschiebemaschinerie. Teil dieser Kämpfe sind auch aus Italien stammende Familien und Individuen, die durch die letzte Krise eine zusätzliche Proletarisierung ihrer Lebensverhältnisse erfahren haben. Weiterhin leben auch viele GefährtInnen in den Vierteln und es gibt einige ältere Besetzungen und eine autonome Infrastruktur.
Die GefährtInnen versuchten Konzepte aus, die in den aufständischen Schriften vor allem von Alfredo Bonanno in Worte gegossen sind, diese zu leben und kritisch zu hinterfragen, zum Beispiel die sogenannten „autonomen Basiskerne“ innerhalb eines ausgewählten spezifischen Kampfes. Diskutiert und ausprobiert werden auch Ideen, wie eine gemeinsame Organisierung zwischen Ausgebeuteten und GenossInnen (die teilweise auch identisch sind) aussehen könnte. Ihre Art der Organisierung ist informell, temporär und zielt nicht auf die Etablierung fester Strukturen (im Gegensatz zu den oben beschriebenen Komitees). Dies sind Fragen, die viel zu wenig von uns als AnarchistInnen angegangen werden. Der aufständische Prozess wird meistens entweder als das Eingehen in einen spezifischen Kampf verstanden, in den wir uns im besten Fall mit Herz, Entschlossenheit und Liebe – aber eher alleine, als GenossInnen – begeben und dadurch versuchen, unsere Ideen und Praxen zu verbreiten und eine bestimmte Zuspitzung zu erreichen, oder als die „vereinfachte Version“ und zwar die Summierung von Angriffen gegen die Symbole von Staat und Kapital. Die Frage wie ein Selbstorganisierungsprozess unter Ausgebeuteten, die aus unterschiedlichen Lebensrealitäten kommen und zum Teil auch sehr verschiedene Ansprüche haben aussehen kann, wird oft ignoriert. Obwohl dieser einen wesentlichen Teil des aufständischen Kampfes darstellen sollte.
Über die Gründe können wir nur spekulieren und es gibt sicher eine Vielzahl. Vor allem, wenn wir die Situation in Deutschland betrachten, wo die Kampfbereitschaft in weiten Teilen der Bevölkerung bekanntermaßen relativ gering ist. Auch in Turin ist der Prozess nicht einfach, wie ihr im Folgenden erfahren könnt. Dieser Kampf ist durch Aktionen, Schwierigkeiten, großen Widersprüchen und auch Niederlagen geprägt. Es geht uns nicht darum einen Kampf zu idealisieren, sondern ihn in allen Facetten zu präsentieren, den guten und den kontroversen.
Nichtsdestotrotz, wenn wir noch denken, dass der Aufstand oder jegliche revolutionäre Prozesse, nur durch eine massenhafte Erhebung, kollektive Verweigerung, entschlossene Absage an die kapitalistischen Verhältnisse entstehen kann, ist die Beschäftigung mit solchen Fragen unabdingbar. Diese Veröffentlichung sehen wir in diesem Kontext und hoffen durch sie einen kleinen Beitrag zur weiteren Diskussion zu geben.