Ein offener Brief von anarchistischen Gefangenen in der Türkei an die Öffentlichkeit
Am 1. Mai kam es in Istanbul zu Angriffen auf Staat und Kapital, wenige Tage später gab es eine große Repressionswelle des Staates, bei welcher mehr als 60 Gefährt_innen festgenommen wurde. Einige sitzen noch immer im Knast und haben sich zu Wort gemeldet. Die deutschsprachige Übersetzung übernehmen wir von linksunten.indymedia.org. Für den 12. Juni wird zu einen Aktionstag für die Inhaftierten aufgerufen.
Wie bekannt sein dürfte, gab es von einigen Anarchist_innen aus dem anarchistischen Block am 1. Mai 2012 Angriffe auf einige Banken und Firmen im Istanbuler Stadtteil Mecidiyeköy-Şişli. Wir, neun der 60 Menschen, die durch die Polizeibehörde in Gewahrsam genommen wurden, wir, neun anarchistische Gefangene, die durch die Entscheidung des 9. Strafgerichts gefangen genommen und in das Typ-T-Gefängnis in Metris gesperrt wurden, schreiben diesen Brief.
Die meisten von uns wurden von Antiterror-Einheiten um 5 Uhr am Morgen des 14. Mai in Gewahrsam genommen und einige am folgenden Tag. Unsere Computer, Telefone, Festplatten, Bücher und viele andere persönliche Dinge wurden von der Polizei beschlagnahmt. Es waren zwischen zehn und 20, die in unser Haus kamen. Die Polizeibehörde warf uns „Zerstörung öffentlichen Eigentums im Namen einer terroristischen Organisation“ vor. Die Gefangenen, die sehr unterschiedliche Auffassungen der anarchistischen Idee und die sich zum ersten Mal im Polizeigewahrsam gesehen haben, wurden der Bildung einer terroristischen Organisation beschuldigt und einige wurden während der Befragung durch die Polizei gezwungen, zuzugeben, deren Anführer_innen zu sein. Auch wenn Führerschaft total im Gegensatz zur anarchistischen Idee steht und dadurch unmöglich ist, war es die Absicht der Polizei diese zu beweisen, genauso wie „die Mitgliedschaft der gleichen terroristischen Organisation“. Diese Unterstellungen sind tragisch-komische Dummheit.
Die Menschen, die von der Polizei beschuldigt werden, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein, hatten keine Waffen oder Munition zu Hause. Allerdings wurden in der Befragung durch die Polizei Bücher von Autor_innen wie Kropotkin, die in jeder Buchhandlung gefunden werden können, als Beleg für eine Organisation herangezogen. Die Partikel, die sie gelesen hatten und die Videos, die sie in sozialen Netzwerken geteilt hatten, wurden dem Gericht von der Polizei als Beweise vorgelegt. Auch die Mitgliedschaften der Leute in einer legalen Organisation, die zu Tierbefreiung, Menschenrechten und ökologischen Fragen arbeitet, mussten als Beweise, vorgelegt durch die Polizei, herhalten.
All der psychische Druck, der auf die Leute ausgeübt wurde: sie waren vier Tage in Gewahrsam und es war ihnen nicht erlaubt ihre Familienmitglieder zu sehen. Es war ihnen nicht einmal erlaubt, jemanden anzurufen, auch nicht ihre Anwält_innen. Einer unsere LGBT-Freunde wurde durch verbale Gewalt angegriffen. Alle wurden dazu gezwungen, die Existenz einer terroristischen Organisation zuzugeben und Falschaussagen über die Mitgefangenen zu machen. Auch tätigten zwei Menschen, die mit 15-20 Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bedroht wurden, Falschaussagen über Leute, über die sie gar nichts wussten. Unter dem Druck der Polizei beschuldigten sie einige Leute, gegen die die Polizei keine Beweise hatte, sei es durch Telefongespräche, Internet oder irgendeine andere Kommunikation mit anderen, Anführer_innen der Organisation zu sein und „identifizierten“ sie als Angreifer_innen.
Die meisten unserer Freunde wurden eingesperrt, nur weil sie ähnliche Taschen, Schuhe, Gürtel etc. hatten (wie sie Millionen Menschen haben können) wie die Menschen, die während des Angriffs gefilmt wurden. Natürlich wird mit diesen mangelhaften und irrationalen Beweisen nicht bewiesen, dass eine anarchistische Terrororganisation existiert. Darum wurden wir beschuldigt, öffentliches Eigentum zerstört zu haben. Wir wollen deutlich machen, dass es uns, als Anarchist_innen, die alle Gesetze und Autoritäten ablehnen und die alle Staaten als Mörder ansehen, egal ist, ob der Staat uns als Terrorist_innen bezeichnet oder nicht. Der gleiche Staat, der in „Roboski“ Dutzende von Menschen umbringen ließ, der den elf Jahre alten Uğur Kaymaz mit 13 Kugeln ermordete und die Täter_innen nicht bestrafte. Der Staat, der 1977 34 Menschen umgebracht hat und dafür nicht eine Person in Gewahrsam nahm, aber kein Problem damit hatte, 60 Menschen in Gewahrsam zu nehmen und einzusperren für 3-5 zerbrochene Bankschaufenster.
Zwei der eingesperrten Freund_innen konnten nicht an den Abschlussexamen ihrer Universitäten teilnehmen. Es besteht die Möglichkeit einer Untersuchung durch die Universitäten und die beiden könnten suspendiert oder entlassen werden. Eine_r unserer Freund_innen bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung der Universität vor. Es ist klar, dass es nicht möglich ist, im Gefängnis dafür genug zu studieren. Eine_r unserer Freund_innen, der/die M.A/M.S studiert, wird die Diplomarbeit nicht weiter schreiben können. Wir erhielten die Nachricht, dass drei Freund_innen nach ihrer Festnahme, entlassen wurden.
Seit wir in Gewahrsam genommen wurden, machten wir unsere Erfahrungen mit dem Rechtssystem, von dem der Staat immer behauptet, dass es so großartig sei: in Wahrheit ist es nichts anderes, als ein Unterdrückungs- und Normierungswerkzeug. Ideen wie Gerechtigkeit und Recht gibt es nur in der Theorie. Wir wollen jetzt draußen sein. Aber lasst uns klarstellen, dass wir weder darum bitten, noch darum betteln werden. Wir wissen, dass wir nur wegen unserer politischen Ideen im Gefängnis sind. Darum bereuen wir auch nicht, was wir getan oder nicht getan haben. Der Grund diesen Brief zu schreiben, ist einzig der, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu erzählen. Er soll sie dabei unterstützen, zu erkennen, was vor sich geht.
Wir wissen, dass diejenigen, die uns eingesperrt haben, nicht nur bezwecken, uns für die Teilnahme an einer Aktion zu bestrafen. Sie wollen uns in diejenigen verwandeln, die Angst davor haben, ihre ureigenen Rechte wahrzunehmen. Aber eines wissen sie nicht: die Gefängnisse ihrer abscheulichen Zivilisation können unsere Ideen nicht unterdrücken und wir fühlen uns stärker als jemals zuvor.
Wir begreifen alle Anarchist_innen der Welt als unsere Genoss_innen und schicken unsere Grüße, unsere Liebe und unseren Ruf nach Solidarität an alle Aufständischen der Welt, die das Feuer der Freiheit in ihren Herzen tragen und die aus Athen, Amed, Chiapas, Gaza, Toronto oder Seattle kommen… ihr müsst wissen, dass ihr nicht alleine seid und dass Menschen in diesen Orten auch kämpfen. Wir danken allen diesen für die Solidarität und für die Aktionen, die uns unterstützen. Es ist unmöglich unsere Gefühle für die lokalen Anarchist_innen, die uns unterstützen und Aktionen für uns machten (wie der Rest der Welt), zu beschreiben. Diese Seiten sind zu kurz für unseren Dank an sie. Wir umarmen sie mit unseren sehr innigen Grüßen. Lasst sie wissen, dass wir wissen, dass sie bei uns sind und dass wir uns nie alleine fühlen, nicht einen einzigen Moment.
Mit Wünschen von uns für viele lange Tage der Aufstände und Solidarität.
anarchistische Gefangene
Beyhan Çağrı Tuzcuoğlu
Burak Ercan
Deniz
Emirhan Yavuz
Murat Gümüşkaya
Oğuz Topal
Sinan Gümüş
Ünal Can Tüzüner
Yenal Yağcı
5 Responses
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[…] par Base de données anarchistes (5 juin 2012) de l’allemand de abc-berlin (et de l’anglais de actforfreedom). Share this:ShareTwitterFacebookJ'aime […]
[…] Den offnenen Brief der gefangenen GenossInnen findet ihr bei ABC-Berlin. […]