Ein Überblick über den Hungerstreik in deutschen Gefängnissen Anfang August 2008
Die größte selbstorganisierte Aktion von Gefangenen, welche seit vielen Jahren innerhalb der deutschen Gefängnisse stattgefunden hat, ist nun schon vor über einem Monat zu Ende gegangen. Wir haben uns etwas Zeit genommen, um ein paar Gedanken über dieses Ereignis zusammenzufassen, denn Aktionen und Texte zur Reflektion gab es in den letzten Wochen genug. Von verschiedenen Seiten betrachtet hat dieser Hungerstreik eine große Bedeutung, die Eröffnung einer Debatte unter solidarischen Menschen und Inhaftierten könnte z.B. eines der wichtigsten Resultate sein, zusammen mit einer Verbesserung der Selbstorganisierung der Inhaftierten und die Eröffnung neuer Perspektiven des Kampfes gegen das Knastsystem. Obwohl die Anzahl an Solidaritätsaktionen nicht immer mit anderen Ländern vergleichbar ist, hat sich trotzdem gezeigt, dass auch hier dieses Thema eine bestimmte Unterstützung findet, welche sich auch langsam verbreitert.
Aber lasst uns langsam anfangen, denn es ist für uns schwierig einen lesbaren Text zu erstellen, aufgrund der Komplexität der Situation: wir haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern an der Teilnahme an einer Debatte, welche hoffentlich weitergehen wird.
Ein „historischer” Hungerstreik – der Anfang einer neuen Welle von Kämpfen?
Eine solch große Aktion, welche von Gefangenen im kompletter Autonomie organisiert wurde, ist uns seit vielen Jahren nicht mehr zu Ohren gekommen. Der Prozess der Individualisierung, Vereinzelung und Entsolidarisierung, welcher innerhalb dieser Gesellschaft ständig zunimmt, kann sich dementsprechend hinter den Mauern der Gefängnisse nur noch auf extremere Art und Weise widerspiegeln. Die Politik der „Resozialisierung”, die Erpressung der Gefangenen durch das Angebot von Lockerungen, aber nur zu dem hohen Preis eines passiven, konformen Verhaltens innerhalb der Mauern, der Skandal der Zwangsarbeit, das Damoklesschwert der Sicherungsverwahrung und schließlich ein wachsendes Desinteresse seitens der Leute hier draußen, egal ob „Normale” oder „Szene-Angehörige”, alles hat seinen Anteil am Niedergang der Kämpfe hinter den Gittern.
Es gibt natürlich immer vereinzelte Beispiele von Gefangenen, welche trotz dieser Situation die Fahne in all den Jahren hochgehalten haben und dafür immer auch einen hohen Preis bezahlen müssen, aber nie konnte die Rede von einer Gefangenenbewegung sein.
Aufstände und revolutionäre Aufbrüche sind unvorhersehbar und diesmal hat ein kleiner Funken gereicht, um eine neue potenzielle Situation innerhalb der deutschen Gefängnisse zu entfachen. Die Situation einer Gefangenen, Nadine Tribian, welche erheblichen Druck seitens des Gefängnissystems und ihrer RichtungsgeberInnen ausgesetzt war, hat die Bedingungen für eine eher selten existente solidarische Haltung unter den Gefangenen ermöglicht. Dass über 500 Gefangene sich mit ihr solidarisch gezeigt haben, indem sie am Hungerstreik teilgenommen haben, ist vielleicht der Anfang einer neuen Zeit und zwar eine, in der Worte wie Solidarität wieder ihren Platz haben. Dazu kommt auch, dass der Protest auch generell gegen die Haftbedingungen gerichtet war und sich nicht nur an der Situation einer Gefangenen begrenzt hat. Außerdem gab es noch die Gefangenen, welche versucht haben diesem Hungerstreik eine noch breitere Perspektive zu geben, wie etwa Gabriel Pombo da Silva, indem sie ihren kompromisslosen Hass auf das gesamte Knastsystem sichtbar gemacht haben. Und wir sind uns sicher, dass außer Gabriel noch weitere Gefangene sich ähnliche Gedanken gemacht haben, denn eine der großen Gelegenheiten, welche ein solcher Protest bieten ist eine mögliche Radikalisierung ihrer Beteiligten – im Knast genauso wie hier draußen.
Gabriel hat vieles zum Hungerstreik beigesteuert, indem er Texte veröffentlicht hat und da er ein „bekannter” Gefangener (in dem Sinne, dass er viel Unterstützung von AnarchistInnen weltweit genießt) ist, hat sein Aufruf zur Aktion bestimmt viele solidarische Menschen zum Handeln bewegt. Später werden wir noch auf seine Texte eingehen.
Die Reaktionen von draußen – das Wort “Solidarität” verbreitet sich wieder…
Wie vielen wahrscheinlich bekannt ist, ist eine Antihaltung gegenüber Knästen innerhalb der „deutschen Bewegung” nicht wirklich weit verbreitet. Zwar gibt es relativ viele, die Initiativen in Solidarität mit „politischen“ Gefangenen organisieren, aber wesentlich weniger sprechen sich für eine Solidarität mit allen Gefangenen im Kampf und gegen das Knastsystem aus. Allerdings ist in letzter Zeit die Stimme der letzteren langsam aber kontinuierlich breiter geworden und hat Diskurse beeinflusst, mindestens das was unsere kleine „Szene” angeht. Und wir waren überrascht davon, dass so eine relativ hohe Resonanz zu diesem Hungerstreik stattgefunden hat.
Die Unterstützungsarbeit wurde hauptsächlich von vier, fünf Zusammenschlüssen aus verschiedenen Städten Deutschlands vorangetrieben (Rote Hilfe Dresden, Gefangenen-Info aus Hamburg, ABC-Orkan, Mauerfall – Gefangenen Rundbrief aus Morbach, Autonomes Knast Projekt aus Köln, um nur ein paar davon zu benennen..), die soweit ihre Kräfte reichten versucht haben, Öffentlichkeit für die Proteste zu schaffen.
Denn die Aufgabe von uns hier draußen bleibt es die Proteste der Gefangenen sichtbar zu machen: dazu gab es vielfältige Aktionen, welche dazu beigetragen haben das Thema in einem breiten Spektrum bekannt zumachen. Von Kundgebungen vor Knästen, Infos verteilen, solidarische Protestpostkarten an die Bielefelder Anstalt (dort wo Nadine sitzt) und das Justizministerium NRW schicken bis hin zu direkten Aktionen ist einiges gelaufen. Eine Auflistung davon gibt es am Ende dieses Textes.
Viele haben uns ständig angeschrieben, weil sie Soliaktionen in ihren Städten vor dem Gefängnis oder sonstwo organisieren wollten. Ob bei ihnen auch Gefangene am Streik beteiligt sind und was sie tun können wollten sie wissen, viele haben außerdem unsere Solipostkarten bestellt.
Generell hatten wir das Gefühl, dass diese Proteste das Interesse vieler geweckt hat, trotz des angehenden „Sommerlochs”. Für viele war dies tatsächlich auch das erste Mal, dass sie sich ernsthaft mit dieser Problematik etwas tiefer auseinandergesetzt und sich darüber Gedanken gemacht haben, dass z.B. einer Trennung zwischen „politischen“ Gefangenen und dem Rest unnütz ist. Wir sehen bei dem Ganzen schon ein paar Schritte in die richtige Richtung. Aber warten wir erstmal ab, was in den nächsten Monaten passieren wird, eine Gelegenheit bestimmte Diskussionen zu führen wird das Antiknastwochenende Ende September in Kiel sein.
Die bürgerliche Presse – ein erwartetes (größtenteils) kollektives Schweigen
Der Großteil der bürgerlichen Presse hat zu dem Kampf komplett geschwiegen, dies überrascht uns natürlich nicht, sondern bestätigt weiter was wir von ihnen halten und zwar nichts positives. Wie auch immer, es gab ein paar positive Ausnahmen seitens der links-liberalen/post-sozialistischen Zeitungen, welche die ganze Woche über ausführlich berichtet haben – wie etwa Neues Deutschland und Junge Welt. Sieben Artikel sind dazu erschienen, welche von eher politisch aktiven JournalistInnen aus Berlin geschrieben wurden. Wenn von ihrer Seite Infos über den Hungerstreik gefordert wurden, haben wir diese per Email weitergegeben bzw. auf unsere Website verwiesen.
Wir haben zwar keine freundliche Haltung den bürgerlichen Medien gegenüber, ganz im Gegenteil, allerdings müssen wir auch anmerken, dass die Artikel recht passabel geschrieben worden sind (sie sind auch auf unsere Homepage zu finden, bildet euch eure Meinung dazu selber).
Andererseits müssen wir aber auch sagen, das wir normalerweise bei so etwas Bauchschmerzen bekommen, aber in diesen Fall finden wir es gut wenn engagierte JournalistInnen versuchen über diese Kämpfe fair zu berichten.
Eines der Hauptprobleme ist auch, dass Gefangene selber nicht wirklich in der Lage sind solche Infos weiterleiten zu können. Sie haben zwar den Rundbrief der Iv.I. zu vielen Zeitungen geschickt, es gab aber keine Rückmeldungen, was uns nicht weiter überrascht. Dementsprechend haben wir es auch für richtig gehalten, dass ihre Stimme auch einen Platz außerhalb unserer Medien findet, auch wenn normalerweise unsere Beziehung zu den Medien anders aussieht. In diesem Sinne war es nicht problematisch für uns Infos weiterzugeben und zu schauen was danach passiert.
Wir dürfen auch nicht unterschätzen, dass die Gefangenen, außer die, welche anarchistische Positionen vertreten, einen Erfolg eines solchen Kampfes darin sehen, je mehr Medien darüber berichten, weil sie die „Öffentlichkeit” erreichen und zeigen wollen, was Knast bedeutet. Auf diese Art werden auch von ihnen Erfolge gemessen: dass Personen aus unserer „Szene” Aktionen organisieren finden sie bestimmt wichtig, freuen sich aber auch über eine breitere Unterstützung, welche laut ihrem Denken durch mehr Medienberichte erreicht werden kann.
Es bleibt dann auch unsere Aufgabe ihnen nochmal zu vermitteln, wie die Medienmaschinerie läuft (obwohl viele Gefangene dies auch wissen, aber wahrscheinlich trotzdem weiter hoffen, dass es sich ändern wird) und dass der Aufbau solidarischer Beziehungen im Kampf eigentlich ein konkretes und vertrauensvolles Ereignis ist. Dadurch versuchen wir eine eventuelle Nutzung der Maschinerie der Medien zu überwinden und versuchen mit unseren eigenen Wegen viel mehr Leute als in unserer „Szene” zu erreichen. Das bleibt immer einer große Herausforderung und gibt es immer noch eine Menge zu tun…
Durch einige JournalistInnen, mit denen wir in Kontakt standen, haben wir erfahren, dass die Knäste bei telefonischen Nachfragen immer meinten: „Hier gibt es keinen Hungerstreik!”. Wie wir später rausgefunden haben soll es in Deutschland der Fall sein, dass ein Hungerstreik erst ab dem achten Tag offiziell von den Behörden und Knastleitungen als Hungerstreik eingestuft und bekannt gegeben wird.
Die Schwierigkeiten der Kommunikation – oder über die Schwierigkeiten, die Betonmauern zu überwinden…
Wie schon zuvor erwähnt, eine Vielzahl von Menschen wollte von uns wissen in welchen Knästen der Hungerstreik stattfindet, um jeweils Aktionen organisieren zu können. Fast immer lautete unsere Antwort: „Wir wissen es selber nicht.” Uns ging es genauso, wir haben am Donnerstag, den 31. Juli nachmittags erfahren, dass sich auch in Berlin-Moabit Gefangene beteiligen, daraufhin haben wir auf die schnelle eine Demo auf die Beine gestellt. Keine/r von uns draußen wusste in welchen Knästen Gefangenen am Streik beteiligt sind, für wie lange, wie viele insgesamt usw. Das hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine negative Wirkung auf Soliaktionen. Nicht das mensch unbedingt einen hungerstreikenden Gefangenen in ihrer/seiner Stadt braucht, um etwas für die Solidarität zu organisieren. Allerdings, weil es für viele ein erstes Annähern an ein solches Thema war, hätte ein solcher Bezugspunkt solidarische Anlässe definitiv vereinfacht.
Woran lagen die Kommunikationsschwierigkeiten? Kurz gesagt, es lag an vielen verschiedenen Gründen. Erstens, unser Kontakt mit der Iv.I. ist erst etwa anderthalb Monate vor dem Hungerstreik zustande gekommen, indem wir ihren Rundbrief erhalten haben. Dazu kommt, es ist davon auszugehen, dass die Anstalten die Gefangenen einer großen Zensur vor und während der Aktion ausgesetzt haben, um genau diese Kommunikation beschränken zu können (nicht das es normalerweise anders laufen würde…). Wir hoffen darauf, dass uns die Gefangenen mitteilen werden, ob dies der Fall war oder woran es lag, dass die Infos nicht wirklich den Weg nach draußen fanden – wir warten auf Rückmeldungen von euch. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Organisierung unter den Inhaftierten noch am Anfang steht und es braucht erstmal eine Weile bis eine bessere Koordinierung untereinander da ist.
Schlussendlich muss aber auch gesagt werden, das wir hier draußen lernen müssen miteinander besser zu arbeiten. Enge Kooperationen zwischen verschiedenen Gruppen gibt es zwar, aber diese müssen weiter verbessert werden von uns allen bzw. muss es öfters Treffen geben, um Sachen gemeinsam zu besprechen.
Hinzuzufügen gibt es noch, dass wir auch zugeben müssen, dass dies die erste große Aktion von „sozialen“ Gefangenen war mit welcher wir hier konfrontiert wurden. Aufgrund des Mangels an Erfahrungen waren wir auch mit der neue Situation zum Teil überfordert und haben auch dementsprechend noch viel zu lernen. Es bleibt für uns als positiv zu bewerten, dass unter einigen Gruppen/Einzelpersonen dieser Hungerstreik hoffentlich dazu gedient hat eine langfristigere und engere Zusammenarbeit in der Zukunft hinzubekommen.
Wie die Grenzen eines Hungerstreiks überwunden werden könnten
Es gibt und es gab in der Geschichte immer unterschiedliche Meinungen über das Kampfmittel des Hungerstreiks – es wäre aber zu lang hier diese Diskussion zusammenzufassen. Viele Gefangene sehen dieses Mittel als das extremste und letzte an, welches ihnen der Staat lässt. Ihre Körper werden schließlich als letzte Waffe benutzt, oft verbunden mit körperlichem Zerfall oder dem Preis des Todes – in der Geschichte der Hungerstreiks sind viele Todesfälle konstatiert. Andere hingegen wollen dem Staat nicht den Gefallen machen sich noch weiter kaputt zumachen, als sie schon vom Knast selber kaputtgemacht worden sind, aber bleiben trotzdem mit dem Hungerstreik solidarisch, wie etwa Thomas Meyer-Falk.
Wir respektieren die Entscheidung der Gefangenen eine solche Form von Aktionismus auszuwählen, denn es hat sich auch oft gezeigt, dass es zu Teilerfolge führen kann, etwa wie im Fall der Thessaloniki7 (Gefangene nach den Protesten gegen den EU Gipfel im Jahr 2003 in Thessaloniki) oder das aktuelle Beispiel von Amadeu Casellas.
Ein Hungerstreik kann aber nur Teilerfolge erreichen, wenn draußen eine vielfältige Unterstützung geboten wird: denn wir hier draußen haben viel mehr Möglichkeiten zu handeln als diejenigen, die gerade als Geiseln vom Staat gefangen gehalten werden. Nur durch vielfältige Unterstützung können die Forderungen der Gefangenen eine hohe Aufmerksamkeit bekommen, das ist die Aufgabe aller solidarischen Menschen, die sich dazu entscheiden ihre Unterstützung anzubieten. Der Druck muss auf verschiedenen Ebenen aufgebaut werden, um das in sich begrenzte Kampfmittel des Hungerstreiks hier draußen erweitern zu können.
Solidarische Kritik als Salz jeglicher revolutionärer Kämpfe
Es gab verschiedene Kritiken an der Form dieses Hungerstreiks, vor allem an der „Organisation”, welche ins Leben gerufen wurde – die Iv.I. Damit setzte sich ein Text von anarchistischen GenossInnen kurz vor dem Beginn des Hungerstreiks auseinander (der Text ist auch hier in der Entfesselt zu finden). Darin wird hauptsächlich kritisiert, dass zum Hungerstreik von einer „Organisation” aufgerufen wird (denn eine offizielle Vertretung stößt gegen die Gedanken einer autonomen/anarchistischen Organisierung), welche sich explizit auf bestimmte rein legale Aktionsformen beschränkt und nur Verbesserungen im Knast fordert, dabei den Gesamtkontext aus den Augen verliert – das gesamte Knastsystem. Daraufhin gab es einen Brief von Gabriel, der schon seine Solidarität und Mitbeteiligung am Hungerstreik bekannt gegeben hatte, welcher als Antwort zu dem Brief aus Belgien und zu einigen Kritiken, diese er persönlich bekommt hat, zu verstehen ist. Außerdem erhielten wir in den letzten Tagen einen Brief von Pit Scherzl, dem „Vorstand” der Iv.I.”, der auch auf einige der Kritiken eingeht.
Wir sehen viele interessante Kritiken und Diskussionspunkte und sind froh darüber, dass sich solch eine Debatte entfacht hat, denn die solidarische Kritik bleibt das Salz jeglicher revolutionärer Kämpfe. Diese muss aber solidarisch bleiben, nur leider werden oftmals die Töne dieser Kritik anders verstanden, was dann eher negative als positive Spannung erzeugt, welche sich dann auf beiden Seiten widerspiegelt.
Wir möchten auch darauf hinweisen, dass eine solche Debatte zwischen Gefangenen und (zu meist) anarchistischen UnterstützerInnen nichts neues ist. Eine Beispiel dafür ist der letzte Hungerstreik gegen lebenslänglich, welcher von italienischen Gefangenen letztes Jahr getragen wurde. Dazu wurde von einer „offiziellen” Organisation aufgerufen und auch von dieser beendet, eine Sache, die auch von Seiten der AnarchistInnen kritisiert wurde.
„AnarchistInnen werden nicht geboren, sondern werden gemacht”
Wir teilen einige Kritiken, welche von den belgischen GenossInnen und in einem Text von Gabriel formuliert worden sind. Wir sind auch gegen jegliche formelle Organisation, denn sie ist in ihren Wurzeln hierarchisch geprägt und aus diesem Grund von unsere Seite abzulehnen. Aus welchen Gründen Pit und die anderen sich dazu entschieden haben eine solche Form der Organisierung zu wählen wissen wir nicht, denn dies bleibt eine offene Frage, die zur Debatte steht, auch hier freuen wir uns auf eine solidarische Auseinandersetzung untereinander.
Allerdings, können wir uns an Gabriels Brief anschließen und bestätigen, das AnarchistInnen nicht als solche geboren werden, sondern gemacht werden…
Drinnen genauso wie hier draußen können wir nicht erwarten, dass Menschen, welche nicht unsere „Politisierung” gehabt haben, vom ersten Moment an bestimmte Zustände erkennen oder in Frage stellen werden: genauso wie wir hier draußen müssen sie ihre Erfahrungen sammeln, um dann evtl. zu anderen Entscheidungen zu kommen und sich breiteren Kritiken an den gegenwärtigen Umständen anzunehmen. Denn unsere Aufgabe als AnarchistInnen bleibt es bestimmte Entscheidungen zu kritisieren und zu gucken ob unsere Kritik aufgegriffen wird. Außerdem, eine Diskussion mit denjenigen aufzubauen, welche sich gerade im Kampf befinden und oftmals mit anarchistischen Prinzipien erstmal nicht zu tun haben. Erschwert wird dies dadurch, weil wir mit Menschen im Knast keine direkte Kommunikation, wie wir sie uns wünschen würden, haben können. Und aufgrund dessen muss diese kritische Diskussion vorsichtiger geführt werden als die, welche wir im Alltag mit unseren GenossInnen haben. Durch das Fehlen einer solchen direkten Kommunikation zwischen den Beteiligten können solche Kritiken sehr schnell als unsolidarisch oder als Anpisse wahrgenommen werden. Und dies obwohl wir ganz genau wissen, wie es die Leute meinen, aber auch hauptsächlich weil wir in der privilegierten Situation sind oftmals die Personen bereits zu kennen und/oder ihre Texte gelesen zu haben. Privilegien, welche die meisten Gefangenen nicht haben.
Wenn wir weiterhin an einer Debatte und Zusammenarbeit mit den Gefangenen im Kampf interessiert sind müssen wir Kommunikationswege eröffnen, Prozesse anstoßen, wie gerade im letzten Monat der Fall war. Aber dabei nicht die Arroganz haben, dass sie sofort auf unseren Zug der Anarchie aufspringen und unsere Kritik aufgreifen werden.
Vielleicht wird es passieren, vielleicht nicht, es kann niemand sagen. Den Versuch solche Kanäle weiterhin offen zuhalten gilt für uns als extrem wichtig, um überhaupt neue Argumente, neue Ideen anderen Menschen zu übermitteln: was diese dann damit machen, bleibt ihre Entscheidung.
Außerdem dürfen wir auch nicht vergessen, dass viele wahrscheinlich mit unsere Form des Argumentierens das erste Mal überhaupt konfrontiert sind: was für uns schon lange klar ist, muss von vielen erstmal aufgearbeitet werden, unsere Schreibstil kommt auch dementsprechend oft fremd vor…
Über Legalität und friedliche Proteste
Es wird auch kritisiert, dass die Iv.I. nur zu legalen Aktionen aufruft und sich explizit von Meutereien distanziert. Wir als AnarchistInnen sehen selbstverständlich ein solches Vorgehen problematisch oder lasst es uns besser ausdrücken: würde dies hier draußen passieren, würden wir ganz anders reagieren.
Wir wären damit einverstanden gewesen, hätte die Iv.I. zu friedlichen Protesten aufgerufen ohne eine ausdrückliche Distanzierung von anderen Formen auszusprechen. Denn Protestformen gibt es verschiedene und jede/r sollte die auswählen, welche ihr/ihm am nächsten steht. In seinem aktuellen Brief beschreibt Pit ganz genau wo seine Probleme liegen: im Knast ist der Mensch ganz anderem Druck seitens des Staates ausgesetzt und unterworfen. Die Handlungen und der Spielraum beschränken sich bzw. der Preis den mensch evtl. zu bezahlen hat ist viel höher als hier draußen. Das dürfen wir hier draußen niemals vergessen oder kleinreden. Er nennt auch eine weitere Wahrheit, nämlich dass die Situation in deutschen Gefängnissen eine andere als in Belgien oder Spanien ist und wir glauben ihn wenn der sagt, dass 95% der Gefangene sich wie Schafe verhalten und eine Revolte die Sache von ein paar wenigen wäre…
Es ist nicht möglich die Kämpfe, welche hier stattfinden mit denen in anderen Teilen der Welt, hundertprozentig miteinander zu vergleichen und zu erwarten, dass etwas was anderswo geschieht hier auf die gleiche Art und Weise reproduziert werden kann, denn die Ausgangspositionen sind zu unterschiedlich.
Außerdem schreibt Pit aber auch, dass jede/r draußen handeln solle wie sie/er es will und zeigt seine private Solidarität. Und dies ist für uns eine wichtige Aussage, denn sie lässt viele Türen offen. Der Punkt ist einfach, dass die Menschen im Knast, da sie der totalen Willkür ausgeliefert sind, sich vor etwaigen Schikane schützen möchten, welche wir ganz genau von ihren Erzählungen kennen.
Für Proteste gibt es immer „Verantwortliche”, im Knast ist es aber nicht möglich in Anonymität zu bleiben. Zur Meuterei wird deswegen nicht aufgerufen, um der noch jungen Protestbewegung nicht durch den Staat die Füße weghacken zulassen – in der Geschichte haben viele mit ganz legalen Mitteln angefangen und sich im Laufe der Zeit für andere entschieden bzw. diese mit angewendet – die Möglichkeiten sind noch da. Wir denken, das viele drinnen sich freuen, wenn hier draußen uneingeschränkte Protestformen angewendet werden: ob sie auch irgendwann zu diesen kommen werden, werden wir sehen, dies ist eine Entscheidung, welche sie allein treffen müssen – unsere Unterstützung werden sie in allen Fällen haben.
Eine Kampf für „Rechte”? – „legal, illegal, scheißegal!”
Wir verstehen Gabriel und die andere Gefangenen, wenn sie sich nicht „stoisch” oder andererseits „märtyrerhaft” verhalten wollen, denn wir sind keine religiöse Menschen und eine solche Aufopferung hat für uns nichts mit Idealen und Anarchismus zu tun.
Wir sehen es auch nicht als verkehrt an, wenn Gefangene für ihre „Rechte” kämpfen, denn hier draußen es ist dies auch meistens nicht anders: „Rechte” werden täglich von uns allen benutzt, so wie z.B. wenn wir uns bei einem Prozess verteidigen. Außerdem wird die Anwendung verschiedener „Rechte” eingefordert, sei es das auf ein Telefonat nach einer Festnahme oder das Recht auf eine/n AnwältIn. Selbstverständlich kämpfen wir für die Umstürzung der gegenwärtigen Zustände und mögen es nicht irgendwelche „Rechte” des Staates zu fordern bzw. zu nutzen, aber wie auch Gabriel schreibt, „legal, illegal, scheißegal”. Rechte sind nunmal da, vorgegeben, zum Teil auch hart erkämpft während der Geschichte.
Wir als AnarchistInnen sehen unserem Kampf nicht als einen der nur bürgerliche Rechte vom Staat einfordert oder Reformen zu primären Zielen eines Kampfes macht. Unsere Ziele lassen sich nicht auf solch eine Art beschränken, indem wir dadurch quasi eine Legitimation des Staat schaffen und zu AnsprechpartnerInnen von dem wir was wollen werden. Allerdings muss gesagt werden, das Rechte bestehen und auch innerhalb eines Kampfes benutzt werden können, dies bleibt trotzdessen immer ein ewiger Widerspruch, auch unter uns. Zur „richtigen“ Art und Weise, wie mensch damit umgehen muss besitzt noch keine/r von uns eine Antwort, egal ob AnarchistIn oder nicht.
Die Hauptsache bleibt aber, dass dies nur eines der Mittel unseres Kampfes ist, weder das einzigste noch der Zweck, sonst würde uns nichts von reformistischen Bewegungen unterscheiden. Genau diese anderen Ziele und eine breitere Wahl der Mittel, die sich nicht durch Gesetzesbücher diktieren lässt, mit deren Hilfe aber die Umstände umgeworfen werden sollen, bleiben die großen Unterschiede zu andere Bewegungen. Auch in einem kompromisslosen Kampf ist es möglich „Rechte” oder „Reformen” einzufordern, dies lässt sich bis jetzt auch nicht wirklich vermeiden (denn auch wir und andere Leute versuchen unsere Gegenpole unter Druck zu setzen, sei es gegen eine Räumung eines Hauses oder gegen die Anwendung neue Gesetze usw.) das Wichtigste ist nur, das es nicht unser Ziel bleibt, denn das ist die Freiheit und die Ausbreitung potenzieller aufständischer Kämpfe und Situationen.
Dass Gefangene für die Anwendung ihrer „Rechte” kämpfen sehen wir erstmal als unproblematisch an so lange vor ihren Augen klar ist, dass das Ziel ihres Kampfes z.B. die Abschaffung des Knastsystems ist, was mit der Abschaffung dieser Gesellschaft verbunden ist. Mindestens in den Briefen von Pit (denn von den meisten der andere Gefangenen haben wir leider bis jetzt nichts gehört) taucht es schon auf, dass es darum geht und dies lässt uns hoffen, dass mehrere Gefangene genau solche Herangehensweisen und Ideen entwickeln werden, um gemeinsam weiter gegen das System zu kämpfen.
Das Ende eines Kampfes kann nur der Anfang eines neuen darstellen…
Wir sehen in diesem Kampf, in diesem Anfang einer Selbstorganisierung unter Gefangenen, ein Potenzial zum Aufbruch mit den Umständen, der Passivität im Knast und der Vereinzelung. Als eine Möglichkeit einer Radikalisierung ihres Daseins, indem wir miteinander eine Kommunikation aufbauen, indem keine/r von uns auf dem Thron der Wahrheit sitzt und heilige Rezepte für alle verteilen will, indem wir uns gegenseitig beeinflussen, trotz der Stärke der Mauern. Außerdem sehen wir die Möglichkeit hier draußen Bewusstsein und Solidarität für diesen Kampf – und zukünftige – weiter aufzubauen und zu verstärken.
Es bleiben viel Fragen offen, es gibt noch viel zu tun. Uns würde außerdem interessieren wie die Einschätzung anderer Gefangener zum Hungerstreik und weiterer Kämpfe aussieht. Weil wir keine „Organisationen” mit dem großen „O” mögen, würden wir gerne in einen direkten Kontakt mit den Gefangenen treten wollen, eine die nicht durch die RepräsentantInnen der Iv.I. vermittelt wurde. Vielleicht haben die Gefangenen selber keine Lust Kontakte aufzunehmen und delegieren eine solche Arbeit lieber an die Iv.I., aber dies wissen wir nicht und stellen deshalb diese Frage.
Pit und alle anderen bei der Iv.I.: ihr müsst euch nicht angegriffen fühlen, wir respektieren eure Arbeit und sind mit euch solidarisch trotz der Unterschiede. Diese gibt es und deshalb muss euch klar sein, dass wir als AnarchistInnen bestimmte Sachen kritisieren und auch weiterhin kritisieren werden. Genau auf die Art wie ihr es uns gegenüber auch machen würdet: solange alles auf einer solidarischen Ebene stattfindet, diese Kritik bleibt notwendig, um voneinander neues lernen zu können. Denn wir hier draußen, obwohl auf freiem Fuß und mit besseren Ausgangspositionen, sitzen nicht alle „auf trockenem Hintern”. Viele nehmen auch Risikos in Kauf und werden mit Repression und Knast konfrontiert: selbstverständlich wünschen wir uns auch, das es immer mehr werden, die nicht sitzen bleiben, denn von diesen gibt es leider immer zu viele…
Anlässe für die Zukunft werden sich finden lassen. Einer könnte der angekündigte Hungerstreik gegen lebenslänglich, welcher ab dem 1.12. in Italien beginnen soll, sein. Schon vor einem Jahr gab es ein solches Ereignis, wobei es auch ähnliche Auseinandersetzungen zwischen anarchistischen UnterstützerInnen draußen und der Assoziation der Gefangenen, die zum Hungerstreik aufgerufen hatte, gab.
So oder so wichtig bleibt, dass wir miteinander die eröffneten Kommunikationswege aufrechterhalten, um den Kontakt nicht zu verlieren und um zukünftige Anlässe gemeinsam zu diskutieren, organisieren, unterstützen, auszuweiten. Auch dass die Leute hier draußen sich weiter Gedanken machen, wie sie folgende Kämpfe von Gefangenen unterstützen möchten. Denn was in den letzten Monaten gelaufen ist, ist nicht wenig, wir sind aber auch sicher, dass es nur noch besser werden kann…
Eine Chronologie der Solidarität
3.08. Dresden, Deutschland: solidarische Menschen organisieren eine Infostand im Alaunpark und verteilen Infomaterial über den Hungerstreik.
4.08. Berlin, Deutschland: über 60 solidarische Menschen treffen sich vor der JVA Plötzensee, in welcher der antifaschistische Gefangene Christian eingesperrt ist und bewegen sich danach als lautstarke Demonstration zum U-Haftgefängnis Moabit, in dem auch einige Gefangene sich am Hungerstreik beteiligen.
Außerdem werden im Vorfeld 500 Protestpostkarten gedruckt mit dem Justizministerium NRW und dem Knast in Bielefeld als Adressaten. Dazu werden Transparente und Plakate mit dem Aufruf zur Solidarität an verschiedenen Hausprojekten sowie öffentlichen Räumen aufgehängt.
5.08. Berlin, Deutschland: zwei Lieferwagen der Firma C+C Shaper werden angezündet wie verschiedene Zeitungen berichten. Ein Kommuniqué stellt die Aktion in Bezug zu dem Hungerstreik: “Wir kritisieren, dass ungenießbare Nahrungsmittel zu sehr hohem Preisen verkauft werden und drücken unsere Protest gegen ein System aus, in dem private Firmen mit Hilfe der Inhaftierung von Menschen erwirtschaften.”
5.08. Hamburg, Deutschland: ca. 80 Leute treffen sich vor dem U-Haftknast Holstenglacis, Texte in verschiedenen Sprachen werden verlesen, außerdem kommt eine Kommunikation mit den Eingesperrten zustande.
6.08. Köln, Deutschland: solidarische Menschen treffen sich vor dem Bewährungsamt, Infos über den Hungerstreik und die Situation von Nadine, sowie Antiknastplakate werden verteilt.
6.08. Vancouver, Kanada: zwei Polizeiautos werden tagsüber ins Brand gesetzt. Das erste parkte vor dem Gericht, das zweite war gerade leer, weil die Bullen damit beschäftigt waren irgendjemanden zu verhaften:
„Wir hoffen, dass diese Aktion eine neue Kommunikation auslösen und neue Beziehungen in der Kampf schaffen werden.
Unsere Wahl geht über wegrennen, sich verstecken und Knast hinaus. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die sich in der Konspirativität des Angriffs finden lassen.
Wir haben uns dazu entschieden zwischen dem 1. und 7. August zu agieren, aufgrund des Aufrufs zur Solidarität mit den über 500 sich im Hungerstreik befindenden Gefangenen in Deutschland und europaweit. Unsere Liebe ist den GenossInnen gewidmet, die ein Leben in Passivität und Schweigen ablehnen. Für die Freiheit von Amadeu Casellas Ramon, Gabriel Pombo da Silva, Marco Camenisch, José Fernando Delgado! Freiheit für alle Gefangenen!
Lasst durch den Willen zur Revolte unsere Untaten der Leidenschaft durch ihre stillen Städte und in die Einsamkeit der Knäste ausbreiten! Wir sind dazu bestimmt ihre Gefängniswelt zu zerstören!
Solidarität“ (das gesamte Kommuniqué könnt ihr unter confrontation.wordpress.com finden)
6.08. Vancouver, Canada: die Fenster des Bewährungsamtes werden eingeschlagen. Die Aktion wird den hungerstreikenden Gefangenen in Europa, sowohl speziell den Gefangenen Gabriel Pombo da Silva, Amadeu Casella Ramon und José Fernandez Delgado gewidmet.
7.08. Amsterdam, Niederlande: die Fenster des Goethesinstituts werden in Solidarität mit den Hungerstreikenden in Deutschland eingeschlagen.
8.08. Madrid und Canarias, Spanien: über 50 Bankautomaten werden temporär außer Betrieb gesetzt. Graffitis werden hinterlassen: „Mehr als 470 Gefangenen im Hungerstreik in Deutschland gegen Isolation. Aktive Solidarität. Gefangene im Kampf”
13.08. Santiago del Chile, Chile: die „internationalistischen aufständischen Kräfte” lassen eine Bombe vor der Itua-Bank explodieren. Die Aktion ist eine Reaktion gegen Unterdrückung, die Knäste, den Staat und das Kapital, speziell im Solidarität mit Gabriel Pombo da Silva und für die Entlassung von Axel Osorio, ein chilenischer Bankräuber, der sich seit Dezember 2007 im Knast befindet.
14.08. Aachen, Deutschland: eine Demonstration wird vor der JVA abgehalten, da sich auch in diesem Knast einige Gefangene im Hungerstreik befinden.