Interview mit dem eingekerkerten Blog “Culmine”

culmineAm 13. Juni 2012 begann der italienische Staat mit einer Repressionswelle gegen Dutzende AnarchistInnen. Sie nennen es „Operazion Ardire“ (Operation Kühnheit). Es fanden 40 Razzien in verschiedenen Städten Italiens statt, acht GenossInnen wurden verhaftet. Insgesamt existieren 24 Anklagen, darunter auch Anklagen gegen inhaftierte Anarchisten, die zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz, in Deutschland (inzwischen Spanien) und Griechenland sitzen. Es geht um das Konstrukt einer “terroristischen Vereinigung”. Eingeknastet wurde auch der anarchistische Blog “Culmine”. Dieses Interview erschien im Original in “Aversión” – publicación anarquista – n. 8, Mai 2013.

1. -AVERSIÓN: In den letzten Jahren, aus Gründen die jenseits dieser Analyse liegen und die eher mit der aktuellen Ausrichtung des Systems zu tun haben, die aber offensichtlich unsere Verhaltensweisen betreffen, sind Blog und Webseiten entstanden, die die Aufgaben übernommen haben, die bis jetzt von unseren Zeitschriften wahrgenommen wurden.
Inwiefern denkt ihr hat das die Kämpfe und ihre Wahrnehmung beeinflusst?

-CULMINE: Wir sind fest überzeugt, dass wir im Anarchismus eine neue Periode erleben. Die Blogs und Webseiten erlauben die schnelle Verbreitung von Erklärungen, Texten und Ausarbeitungen in alle Teile des Planeten, und erlauben den Austausch von Ideen und Vorschlägen unter GenossInnen, die wahrscheinlich nie die Möglichkeit haben werden sich körperlich zu begegnen. Es handelt sich um eine regelrechte Revolution in den Beziehungen unter AnarchistInnen. Wir sind uns der Limiten dieser neuen Verhaltensweise durchaus bewusst, sowohl weil die Gefahren die man eingeht sehr hoch sind, wie mit „Culmine“ geschehen, der sich jedenfalls nicht zur Anonymität entschieden hat. Der anarchistische Blog „Culmine“ wurde am 13. Juni 2012 auch wegen seiner Gegeninfoarbeit eingekerkert.
Der Diskurs über die Kämpfe und ihre Wahrnehmung ist eher komplex. Man muss von der Tatsache ausgehen, dass heutzutage -2013- alle Bewegungen Internet benutzen: politische, ökologische, kulturelle und sogar antitechnologische (dieses Paradoxon würde eine vertiefte Behandlung verdienen, aber nicht hier). Auch innerhalb des Anarchismus haben praktisch alle Gruppen jeglicher Tendenz mit dem Netz zu tun, doch kürzlich kam es, mit bösen Folgen, zur krassen Verbreitung der sozialen Netzwerke wie Twitter und Facebook. Jedenfalls waren wir nie der Meinung, die Gegeninfoblogs sollten die papiernen Publikationen ersetzen.

2. A: Es scheint, dass zurzeit Internet etliche Aspekte unserer Existenz umfasst und die zwischenmenschlichen Beziehungen radikal beeinflusst und enorm zur Isolierung, zur Atomisierung und Entfremdung beiträgt. Meint ihr nicht auch, dass es im anarchistischen Milieu an kritischen Positionen zu diesem Instrument mangelt?

-C: Klar, Internet ist stark in den Existenzen von uns allen präsent, AnarchistInnen mit eingeschlossen, wir brauchen dieses Instrument im Alltag auch zum reisen oder lesen einer Tageszeitung. Es gibt keine Positionen einer starken und harten Kritik und Ablehnung dieser Technologie. Aber wir glauben, dass es mit einigen kritischen Analysen und der Ablehnung des Netzes durch ein von elitärem Snobismus geprägtes Verhalten der Wenigen, die alles geschnallt haben, auch nicht getan ist. Auch wir finden das Problem bzw. die Gefahr dringlich, dass wir uns immer mehr ab-isolieren und jeden Aspekt des Kampfes virtualisieren, auch die zwischenmenschliche Auseinandersetzung, aber gleichzeitig hören nicht auf uns vorzustellen, welche Potenzialität eine Verbreitung unserer ikonologischen Ideen und Praktiken in allen Winkeln des Planeten hat. Was eher fehlt, ist eine gehörige Reflektion über die Gestaltung unserer Existenz ohne jegliche Virtualität. Es geht schlussendlich um das Dilemma der Antizivilisation, das noch zu stark im aktuellen Modell unserer Gesellschaft verankert ist. Dazu hat „Culmine“ mehrmals seine Wertschätzung dieser Thematik unter Beweis gestellt, einen eigenen Reflektionstext jedoch auf unbestimmte Zeit vertagt. Wir setzen voraus, dass es aktuell sehr schwierig ist, sowas schnell und gemeinsam auszuarbeiten, aber schliessen nicht aus, dass wir es bald tun werden.

3.A: Ganz konkret, „Culmine“ ist der erste bekannte Fall einer Repression gegen einen anarchistischen Gegeninfo-Blog. Wieso das, was meint ihr? Warum „Culmine“ und nicht andere Blogs und Seiten?

-C: Erstens geht es bei der Repression gegen „Culmine“ um die italienische Antiterrorismusgesetzgebung als Erbe der Sondergesetze, die in den sog. „bleiernen Jahren“ eingesetzt wurden. Man muss klarstellen, dass wir von „Culmine“ nicht nur wegen der Übertretung von Informations- oder Apologiegesetzen angeklagt sind, sondern auch der Planung, Finanzierung und materiellen Ausführung der Sprengstoffattentate. Warum „Culmine“ und nicht andere Blogs? Weil, unserer Meinung nach, „Culmine“ in all den Jahren seines Bestehens sich charakterisierte indem es keine der aus der ganzen Welt kommenden Aktionsbekennungen je zensierte und auch den vielen anarchistischen Gefangenen eine Stimme gab. Wobei wir nicht alleine sind, wir haben die Entstehung vieler anderer Blogs und Webseiten erlebt, mit denen wir Reflektionen und Erfahrungen geteilt haben. Die Einkerkerung von „Culmine“ ist ein wüstes Signal der Repression da es ein Szenarium ist, das sich auch für andere ähnliche Erfahrungen auf der Gegeninfoebene wiederholen kann. Vielsagend ist, z.B., dass gemäss Anklage unsere Uneinsicht nach der Durchsuchung vom 29. März 2012 (als Ansage einer verstärkten Repression) belegt worden sei, indem wir danach unverzüglich eine Erklärung verteilt hätten und die anderen Blogs über den Vorfall und den Angriff gegen „Culmine“ aufzuklären.

4. A: Eine latente Frage zu diesem Thema ist die Zeit. Internet zwingt dich zur konstanten Aktualisierung und das Ganze läuft in einem Tempo ab, das die menschlichen Fähigkeiten bei weitem übertrifft. Welchen Sinn hat es in Echtzeit zu wissen, was auf dem ganzen Planeten geschieht? Unsere Fähigkeit zum Eingriff in die uns am nächsten stehende Wirklichkeit ist an sich schon äusserst begrenzt. Bis zu welchem Punkt kann das denselben Beschleunigungswahn verursachen, mit dem sich z.B. die technologischen Apparate oder die Moden verändern, die plötzlich ihren Wert verlieren oder bedeutungslos werden?

– C: Das Problem der andauernden Aktualisierung und Tatsache ist, dass ein nicht regelmässig aktualisierter Blog nicht mehr besucht wird. Wichtig ist, dass die BetreiberInnen eines Blog das eingehende Material intelligent und sorgfältig selektionieren und gewissen Posts mehr oder weniger Raum und Gewicht geben. Klar, wir können gewiss überleben (und natürlich weiterkämpfen und Gegeninfo machen) ohne zu wissen, was in Echtzeit auf der anderen Seite der Welt geschieht. Aber die Idee ist und bleibt, dass der Austausch an Infos und Erfahrungen, wie es in den letzten Jahren der Fall war, für die anderen Realitäten eine Anregung sein kann. Es gibt jedoch eine Grenze die man nicht überschreiten darf, sonst verfällt man der Virtualität des Kampfes und der totalen Virtualität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Daher meinen wir, dass die Mobilisierungen über Twitter z.B. wegen der extremen Schnelligkeit und Zurückverfolgbarkeit keinerlei Reflexion ermöglichen, obwohl es nunmehr bei Kundgebungen am häufigsten eingesetzt wird und sogar die SMS überflügelt hat.

5. A: Eine neue Konzipierung des stark vom Netz beeinflussten Anarchismus der Aktion ist klar ersichtlich. Es gibt Diskurse und Verhaltensweisen, die, obwohl man nicht alle als „schädlich“ bezeichnen kann, doch auch Dynamiken hervorrufen die an schlecht umgesetzte Nachahmungen und andere an reine „Spielchen im Netz“ erinnern.

– C: In den letzten Jahren ist ein neues Verständnis, eine neue Art und Weise des Erlebens des Anarchismus aufgekommen; es ist eine derart neue Erscheinung, dass sie unmöglich einzuordnen ist und Definitionen können in dieser Phase irreführend sein. Doch eine der üblichsten Bezeichnungen ist „Anarchismus der Aktion“: unserer Meinung nach kann man nicht sagen, dass das Netz die neue Konzipierung beeinflusst habe, sondern eher dass es deren Tragweite, die verschiedene Differenzierungen und gemeinsamen Nenner schneller verbreitet hat. Was an sich keine Neuigkeit ist; schon in der Vergangenheit gab es Perioden, in denen der Anarchismus der Aktion seine Stimme durch Attentate, Exekutionen, Sabotagen und sogar Geiselnahmen erhob. Neu gegenüber der Vergangenheit ist nur die Verbreitung der Aktionserklärungen in Echtzeit an allen Orten des Planeten und in der möglichen Einsicht durch andere Individuen und Gruppen der Aktion mit denselben Zielen. Auch in diesem Fall geht es um schon gesehene Phänomene: das eklatanteste Beispiel, aber es gibt viele andere, ist die internationale Kampagne für Sacco und Vanzetti. In verschiedenen teilen des Planeten warteten Individuen und Gruppen auf Neuigkeiten aus dem nordamerikanischen Todestrakt: damals war das Kommunikationsmittel der Telegraph, heute ist es Internet. Natürlich gibt es mit dieser neuen Herangehensweise viele Probleme, die es zu lösen gilt. Nur zu wahr ist, dass es viel oberflächliche Analysen gibt und aus dem Nichts Gestalten auftauchen, die einem anarchistischen Werdegang völlig fremd (und entsprechend vorsichtig zu geniessen) sind. Auch nicht unterschätzt werden dürfen die Sprachschwierigkeiten, sei es wegen schlechten oder oberflächlichen Übersetzungen (immer mehr auch mit automatischen Übersetzungsprogrammen, die unserer Ansicht nach nur notfallmässig eingesetzt werden sollten), sei es wegen schlecht assimilierten Begriffen. Ein Beispiel könnte uns hier helfen: im Anarchismus der Aktion spricht man oft von der Stadtguerilla und von bewaffnetem Kampf. Aktuell haben wir keine Instrumente dessen, was z.B. in Griechenland abläuft und sicher bestehen weder in Italien noch in verschiedenen anderen Ländern die Voraussetzungen um von Stadtguerilla und bewaffneten Kampf zu sprechen. Auch über den Begriff Nihilismus gibt es ein grosses Durcheinander (bis zu dem Punkt, dass einige PseudonihilistInnen soweit gegangen sind, jegliche Ethik zu verneinen und sogar Schandtat Tür und Tor zu öffnen) und ähnliche Zweideutigkeiten kommen auch über den Begriff des anarchistischen Antijuristismus auf! Solche Fragwürdigkeiten effektiv zu unsympathischen „Spielchen im Netz“ degenerieren, denen „Culmine“ jedenfalls nie Raum gewährt hat.

6. A: Viele von uns sind im Anarchismus durch Debatten, Briefe an Gefangene, Broschüren, Umgang in anarchistischen Bibliotheken, Beiträge an Zeitschriften auf der anderen Seite des Planeten, Gespräche mit alten Saboteuren und Guerillas, etc. gewachsen…aber die Bildung findet heute grösstenteils durch Blogs oder soziale Netzwerke statt. Was meint ihr dazu?

– C: Dass die heutige „Bildung“ grösstenteils über Internet läuft, ist unbestreitbar aber es ist sicher auch eine Frage der Generation (jede historisch-soziale Periode nutzt die bestehenden Mittel). Wir von „Culmine“ kamen auf die Betreibung eines Blog nach einem Weg in der italienischen anarchistischen Bewegung, der lange vor dem Aufkommen des Netzes begonnen hat. Was wir uns heute zutrauen zu sagen ist, dass wer zu einer sich als revolutionär begreifenden Bewegung gehört, jederzeit die Fähigkeit zur vielleicht auch gewalttätigen Wechselwirkung mit der eigenen sozialen Umgebung haben muss. Auf einmal auf Internet und alle anderen technologischen Mittel zu verzichten, ist absolut undenkbar (wenn in einer antizivilisatorischen Optik auch ideal). Jene die sich mit Gegeninfo beschäftigen sind die, die ihre besten Energien aufbieten müssen damit die Blogs und Webseiten Artikel, Bücher, vertiefte und sorgfältige Abhandlungen anbieten können; vorerst gibt es keinen anderen Weg. Ganz anders ist der Diskurs über die nicht unmittelbaren Perspektiven. Man kann sich fragen wie es zu dieser Lage gekommen ist, aber diese Analyse, die gebührend selbstkritisch sein muss, umfasst die letzten Jahrzehnte des weltweiten Anarchismus. Und wir denken, dass die Reflektion auf dieser Ebene auf andere Themen ausgeweitet werden muss, über das der technologischen Abhängigkeit hinaus: welcher Anarchismus? Insurrektionalismus oder Individualismus? Anarchistischer Antijuristismus und bis zu welchem Grad ist man antijuristisch? Sozial oder antisozial?

7. A: Diese Interview versucht wie ein in die Luft geworfener Stein zu sein, mit dem Zweck eine Debatte ins Leben zu rufen. Wollt ihr noch etwas anfügen?

– C: Uns ist es wichtig zu kommunizieren, dass was mit „Culmine“ geschehen ist, nicht etwa von einer unvorsichtigen Handhabung unsererseits irgendeiner Netzwerk-Anonymisierung verursacht wurde. Unser Blog war öffentlich, im Sinne dass wir unsere Identität nie versteckt haben und sogar an verschiedenen öffentlichen anarchistischen Debatten und Initiativen teilgenommen haben. Unsere Vorstellung ist, dass die Individuen, die anarchistische Blogs betreiben, umso mehr wenn sie sich mit Aktionserklärungen und Texten von Gefangenen beschäftigen, in der Bewegung bekannt sein müssen: Fehler macht man viele, man muss imstande sein, sie einzuräumen. Mehr als einmal sind wir, z.B., über falsche Erklärungen gestolpert, die von Fabulierungssüchtigen oder den Bullen kamen und das ist ein sehr hohes Risiko für die, die sich mit einem Blog beschäftigen. Auch in diesem Falle ist die in jahrelangen Kämpfen gesammelte Erfahrung hilfreich zur richtigen Einschätzung der Echtheit der Texte, mit denen man es zu tun hat. Uns war immer wichtig die Quelle unserer Posts anzugeben und auch die ÜbersetzerInnen, die uns von Fall zu Fall halfen, aber das gehört für uns zu einem korrekten und nicht oberflächlichen modus operandi, der genauso für papierne Publikationen gilt. Trotz der Repression, trotz den langen Monaten Untersuchungshaft in Hochsicherheitstrakten verleugnen wir die von „Culmine“ in diesen Jahren geleistete Arbeit nicht und wünschen, dass andere Blog mit Gegeninfo weitermachen können. Gleichfalls sind wir an einer kritischen und konstruktiven Reflexion innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung mehr als interessiert.

Stefano Fosco
Individualistischer anarchistischer gefangener,
c/c Ferrara, Via Arginone 327, 44122 Ferrara

Elisa Di Bernado
Anarchistische Gefangene,
c/c Rebibbia Femminile, Via Bartolo Longo 92, 00156 Roma

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2 Responses

  1. 20/08/2013

    […] από το ιβηρικό αναρχικό περιοδικό «Aversión» (aversion@riseup.net), τ. 8, Μάης 2013 —στα ισπανικά, ιταλικά, γερμανικά […]

  2. 29/09/2013

    […] spagnolo, tedesco, greco, […]