Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder – eine Rezension
Von der Webseite des Strafvollzugarchivs übernehmen wir eine Buchbesprechung von Johannes Feest.
Er stellt das Buch Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu vor, in welchem dieser über seine Erfahrung in verschiedenen Knästen in China berichtet.
Liao Yiwu hat eine bemerkenswerte Geschichte zu erzählen. Von einem Lyriker, der zur Zeit des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens in ein „Geheul“ nach Art von Allan Ginsberg ausbrach. Und dessen Gedichte „Massaker“ und „Requiem“ von Hand zu Hand in ganz China verbreitet wurden, auch als Ton- und Videodokument. In der Folge wurden er und einige seiner Freunde festgenommen und er verbracht die nächsten vier Jahre hinter Gittern. Im Jahre 1994 wurde er entlassen und begann an dem Buch zu schreiben, welches jetzt auf deutsch vorliegt. Das erste Manuskript wurde von der Polizei beschlagnahmt und er musste von vorne anfangen. Unter dem Titel “Zheng-ci” (“Zeugenaussage”) wurde das Buch schließlich im Jahre 2000 in Hongkong veröffentlicht. In China ist das Buch nach wie vor verboten (und in Hongkong ist es vergriffen). Die Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung wurde solange aufgeschoben, bis dem Autor Anfang Juli 2011 die illegale Ausreise nach Deutschland gelang. Weitere Bücher sollen demnächst auf Englisch erscheinen (vgl. New York Review of Books)
Das Buch von Liao Yiwu ist höchst informativ, schockierend und zugleich anrührend. Es ist informativ, weil es einem breiten Lesepublikum Einblicke in das chinesische Justiz- und Gefängnissystem bietet. Es ist schockierend, weil vieles, was der Autor aus eigenem Erleben beschreibt, Verhältnisse von kaum glaublicher Primitivität und Brutalität ans Licht bringt. Aber es ist auch anrührend, wegen der Darstellung von Menschlichkeit und Zuwendung in einer extrem harten Institution.
Liao Yiwu hat eine Reihe von Gefängnissen kennengelernt: drei Monate lang ein „Untersuchungsgefängnis“, einem bei uns nicht mehr existenten Polizeiknast zum Weichkochen hartgesottener Häftlinge. Etwa 18 Monate lang war er dann in einem „Gerichtsgefängnis“, in dem die Gefangenen darauf warten, dass die Ermittlungsbehörden sich endlich entschließen Anklage zu erheben. Dann, für den Rest einer vierjährigen Freiheitsstrafe, in einem Gefängnis zur „Erziehung durch Arbeit“. In all diesen Gefängnissen sind 20 und mehr Gefangene in ca. 20 qm großen Räumen untergebracht. Die meisten der Gefangenen schlafen eng gedrängt auf einem Bettofen (Kang) aus Beton. Die gemeinsame Toilette befindet sich in einer Mauernische. Die Gefangenen bekommen täglich Rationen von gekochtem Reis und eine Suppe zugeteilt, in der manchmal auch Spuren von Fleisch sind. Nach dem ungeschriebenen Gefängnisgesetz ist nur ein Brief pro Monat gestattet (S. 306). Obwohl vor der Verurteilung eigentlich keine Arbeitspflicht besteht, sind die meisten Gefangenen, im Akkord mit (buchstäblich) Tütenkleben beschäftigt. Die Erziehung durch Arbeit, zu der Liao Yiwu verurteilt wurde, bedeutet 10-stündige Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen. Von Arbeitsentgelt ist an keiner Stelle des Buches die Rede.
Kern des chinesischen Gefängnissystems in allen geschilderten Institutionen ist aber „die uralte Tradition, Verbrecher mit Verbrechern zu regieren“ (S. 404). Das Personal mischt sich eher selten in das Leben in den Gemeinschaftszellen ein. Dort regieren einzelne „Zellenkönige“ über die Mehrheit der ihnen auf Gedeih und Verderb Unterworfenen. Dafür steht ihnen ein breites Arsenal an Disziplinierungsmitteln zur Verfügung, von der Essensverteilung über die Zuteilung von Hygienediensten bis zu brutalen Züchtigungen und Vergewaltigungen. Nur wenn diese Mechanismen nicht funktionieren greift das Personal ein, verteilt reihum Schläge mit den Elektroknüppeln, verfügt extreme Sorten der Fesselung etc. Als Korrektiv für dieses System der „Selbstkontrolle“ finden ein bis zweimal im Jahr Kampagnen „gegen Knasttyrannen“ statt, bei denen man versuchen kann seine Zellenobrigkeit zu denunzieren und auf diese Weise los zu werden.
Das alles ist mehr als 15 Jahre her. Man kann sich fragen, ob es dort heute noch genau so zugeht. Immerhin scheint sich am rechtlichen Rahmen das eine oder andere geändert zu haben. Aber Institutionen sind (dort wie hier) allemal bestandskräftiger als ihr rechtlicher Überbau.
Jiao Yiwu beschreibt den Alltag im Gefängnis ohne jeden anklägerischen Gestus, mit einem Auge für anschauliche Details. Dabei wird jedoch auch deutlich, dass selbst (und vielleicht gerade) in dieser extremen Zwangssituation ein erstaunliches Maß an menschlicher Zuwendung stattfindet. Ein Fokus dieser Zuwendung sind die zahlreichen Todeskandidaten, von denen jeder Zelle einige zugewiesen werden. Sie sind an Händen und Füßen gefesselt und bedürfen daher der Hilfe beim An- und Ausziehen, beim Waschen, Essen etc. Diese Todeskandidaten genießen eine Art von angstbesetzter Verehrung und es scheint sich immer jemand zu finden, der ihnen zu Diensten ist und alle zittern mit ihnen dem Tag entgegen, an dem sie zur Hinrichtung abgeholt werden. Anrührend sind auch die dreißig “Liebeslieder aus dem Gulag”, die dem Bericht beigefügt wurden und die den deutschen Titel ein Stück weit rechtfertigen.
Aber auch der Autor, der als Intellektueller, als Künstler und als politischer Gefangener kaum Seinesgleichen in der jeweiligen Zelle findet, wird mit überraschendem Respekt behandelt und genießt sogar da und dort kleine Privilegien. Er verschafft sich bei den Mitgefangenen Respekt durch den Geist des Widerstandes, den er gegenüber Verhörspersonen und Wachthabenden an den Tag legt und für den er von Zeit zu Zeit harte Strafen erhält. So weigert er sich konsistent sein Handeln als eine Straftat einzusehen und das verlangte Geständnis abzulegen. Seine Zellengenossen nennen ihn mit einer gewissen Zärtlichkeit „Konterrevolution“. Am Ende seiner Strafzeit besteht seine Tragik darin, dass er nahezu alles, was ihm vorher lieb und teuer war, verloren hat: Frau und Tochter haben ihn verlassen und auch viele seiner ehemaligen Freunde und Mitstreiter sind mittlerweile vom Mainstream einer sich rasant verändernden Gesellschaft erfasst worden.
Immerhin hat ihm der Literaturpreisträger Liu Xiaobo, aus dem Hausarrest, in dem sich dieser befindet, einen wunderbaren Brief geschrieben, der in dem Buch als Vorwort abgedruckt ist. Darin heißt es: “Womit man nicht fertig wird, damit wird man niemals fertig, selbst wenn wir eines Tages den Unglücklichen Trost spenden können sollten, die für unser Land gestorben sind. Aber ich muss Dir noch danken, und deshalb sage ich Dir mit dem letzten Rest an Ehrerbietung, den ich aufbringen kann: ‘Ich danke Dir, mein alter glatzköpfiger Freund'”.
P.S. Eine Freundin hat mich auf einen älteren Zeugenbericht aus dem chinesischen Strafvollzug aufmerksam gemacht (Dries van Coillie. Der begeisterte Selbstmord. Im Gefängnis unter Mao Tse-tung. Freiburg 1965). Der Autor ist ein belgischer Priester, der seit 1939 in China für die Kongregation vom unbefleckten Herzen Mariens tätig war. 1951 wurde er verhaftet, weigerte sich aber zunächst, trotz schwerer Misshandlungen, seine Organisation als eine reaktionäre und imperialistische zu bezeichnen. Auch van Collies Buch enthält eine genaue Beschreibung der Haftbedingungen und diese haben erstaunlich viel mit denen gemeinsam, die Liao Yiwu fast fünfzig Jahre später vorfand.
Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Frankfurt: S. Fischer 2011. 585 Seiten, € 25,70.
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