Neue Antiterrorermittlungen in Frankreich – Tod einer Genossin, ein weiterer schwer verletzt
Diesen Beitrag haben wir um den 15. Mai herum geschrieben. Jeden Tag erscheinen neue Artikel in der bürgerlichen Presse und die Geschichte entrollt sich Stück für Stück. Wir werden dieses Ereignis weiterverfolgen, deshalb könnt ihr auf unsere Website schauen, sobald es Updates gibt, werden sie dort bekannt gemacht. Für diejenigen, die französisch sprechen und aufgrund ihres nicht eingesperrt seiens einen Zugang zum Internet haben, empfehlen wir die immer lesenswerte anarchistische Website der Zeitung “Cette Semaine”, cettesemaine.free.fr.
Neue Antiterrorermittlungen in Frankreich –
Tod einer Genossin, ein weiterer schwer verletzt
Anfang Mai mussten wir auf einigen französischen Internetseiten eine traurige Nachricht lesen. In der Nacht zum 1. Mai ist eine Genossin, Zoe, 24 Jahre alt, beim Hantieren mit Natriumchlorat (geeignet zum Bau von explosiven Gegenständen und Rauchpulver – je nach Gemisch) ums Leben gekommen. Ihr Freund, Mickäel, wurde schwer verletzt und liegt im Moment noch im künstlichen Koma auf der Intensivstation im Krankenhaus in Lyon, wohin er sofort mit Hilfe eines Hubschraubers gebracht wurde.
Was aus ihm wird, sollte er zu Bewusstsein kommen, ist unklar. Die Bullen warten schon ungeduldig und die Aasgeier der Presse arbeiten wieder fleißig daran die Figuren zweier „Terrorist_innen, die wahrscheinlich der anarcho-autonomen Bewegung angehören” aufzubauen.
Die Beiden befanden sich zum Zeitpunkt des Unfalls in einer verlassenen Fabrik in Cognin, was in der Nähe von Chambery liegt. Sie wurden von der Presse als “Menschen, die dem libertären Milieu nahe stehen” beschrieben. Wie wir in den Zeitungen lesen mussten war Mickäel in der Schweiz aktiv und hat auch im Squat “La Tour” bis zu dessen Räumung im Jahr 2007 gewohnt. Zoe hat auch eine Geschichte, die mit Hausbesetzungen zu tun hat. Die Behörden beschweren sich bei ihr „nichts weiteres als ihre Beteiligung an einigen politischen Demonstrationen gefunden zu haben”.
Das Umfeld der beiden, das Squat “Les Pilots” in Chambery (eine Stadt in der Nähe von Grenoble), wurde unter die Lupe genommen: Am Montag, den 4. Mai wurde das Squat von einem martialischen Aufgebot von 130 Bullen, darunter Antiterroreinheiten, durchsucht, um „Beweise jeglicher Art zu finden”. Die elf Menschen, die sich in dem Squat aufhielten, wurden verhört. Einer von ihnen, Raphael, wurde für längere Zeit in der Polizeiwache festgehalten, denn nach dem Antiterrorgesetz kann mensch bis zu 144 Stunden (sechs Tage) sitzen. Schlussendlich wurde er nach der Anhörung beim Haftrichter in Haft genommen.
Natürlich wird jetzt auf ganz hohem Niveau gegen Terrorist_innen ermittelt, aufgrund „Mitgliedschaft in einer Vereinigung von Übeltäter_innen mit Kontakten zu einer terroristischen Vereinigung” und „Zerstörung von Dokumenten oder Objekten, die einen Bezug zu Verbrechen oder Delikten haben“. Raphael soll angeblich Dokumente vernichtet haben, die mit der Explosion in Cognin zu tun gehabt haben sollen – das jedenfalls behauptet die Polizei. Außerdem soll das Squat „Pilot” geräumt werden, um die Ordnung in der Stadt wieder herzustellen.
Mittlerweile wurden auch zwei weitere Squats in Chambery durchsucht und Leute verhört. Zitate aus einer Erklärung des Squat „Les Pilots”: „[…] Es gibt große Chancen, dass diese Geschichte seitens des Staates instrumentalisiert wird, um den Aufbau der „inneren Feinde”, der neuen „anarcho-autonomen Zelle”, neu modisch und eine Psychose en vogue, voranzutreiben. Dies wird zur Errichtung neuer Sicherheitsmaßnahmen dienen, gerade im Hinblick auf die europäischen Wahlen, die bald anfangen […].
Auch für uns ist die Sache nicht beendet. Denn warten wir auf die nächste GAV [“Garde à vue” – vorläufige Festnahme, welche bis zur Vorführung vor den Haftrichter andauert, bis zu 144 Stunden], wissen wir weder was sie suchen, noch bis zu welchem Punkt sie bereit sind zu gehen. Es wurde gesagt, dass sie gerade einen „älteren Menschen” suchen, der an dem Abend in Cognin dabei gewesen sein soll. […].”
Das Magistrat, das nun die Ermittlungen in der Hand hat, ist zum Teil das gleiche, das gegen die sogenannten „Tarnac 9” ermittelt. Raphael wurde nun nach seiner Anhörung in den Pariser Knast „La Sante” verlegt. In die gleiche Abteilung wie Julien Coupat, der letzte im Knast verbliebene der „Tarnac 9”. Es wurde ein Unterstützungskommittee für Raphael in Chambery gegründet und es fand eine Solidemo in Chambery für ihn statt, an welcher sich 200 Leute beteiligten.
So weit erstmal die Fakten, die uns bekannt sind.
Es ist gerade allgemein ziemlich schwierig zu verstehen was in Frankreich abgeht, denn leider gab es keine Texte, die nicht auf französisch waren und generell herrscht etwas „Ruhe” um die Sache. Den Großteil der Informationen mussten wir leider aus der bürgerlichen Presse entnehmen, was uns gar nicht gefällt, weil uns selbstverständlich eher die Worte unserer Genoss_innen glaubhaft erscheinen. Wir würden uns vor allem wünschen mehr Stellungnahmen zu lesen, die auf den Tod der Genossin und die schweren Verletzungen des anderen Genossen eingehen. Denn die meisten Beiträge, die wir lesen konnten (dies heißt selbstverständlich nicht, dass wir alle Beiträge zu dem Fall gelesen haben), haben sich eher auf die Kriminalisierungsversuche, die der Staat und seine Antiterrortruppen gerade anwenden und weiter ausbauen, konzentriert und ausgesagt, „daß wir keine Terrorist_innen seien” (ein weiteres Zitat aus dem Squat „Les Pilots”).
Das sagen auch wir. Denn es ist wichtig und richtig. Wir wissen nämlich, wer die wahren Terrorist_innen sind und wo sie gemütlich sitzen: Polizeiwachen, Tribunale, Parlamente usw.
Wir finden es traurig, dass wir nur wenige Worte über die beiden Genoss_innen finden konnten. Es bleibt vielleicht auch nur wenig Zeit sich gerade darauf zu konzentrieren, denn der Staat überzieht die Menschen aus ihrer Umgebung sofort mit Repression. Zudem dürften ihre GenossInnen auch gerade mehr als „erschüttert” sein und wir können auch verstehen, wenn sie selbst erstmal kein Wort in der Öffentlichkeit reden möchten. Aber was ist mit allen anderen?
Wir sind von dem Tod einer Genossin und den schweren Verletzung eines weiteren erschüttert und bei so etwas wollen wir nicht schweigen…
Hier aus der Entfernung befinden wir uns in einer „privilegierten” Position. Deshalb wollen wir mit diesem Schreiben auch auf keinen Fall das Verhalten der Genoss_innen dort „verurteilen”, denn wie gesagt, wir wissen selbst so wenig darüber, dass wir dabei das Gefühl haben nicht wirklich viel sagen zu können, außer ein paar unserer emotionalen Eindrücke nach solch einem Ereignis.
Was bei der Sache aber nicht vergessen werden sollte ist, dass durch einen fehlenden Informationsfluss, welcher direkt aus der Szene kommt und dabei die bestehenden autonomen Medien nutzt, das Meinungs-Monopol und die Verbreitung von Informationen den bürgerlichen Medien obliegt. Dieses Monopol wird immer in einer uns diffamierenden und in schlechtes Licht rückenden Art und Weise benutzt und bewusst werden Informationen weggelassen und falsche hinzugefügt, um bestimmte Stimmungsbilder in der Bevölkerung zu erzeugen. Deswegen ist es notwendig die eigenen Medien ausgiebig zu nutzen, damit wir als GenossInnen nicht auf die bürgerliche Presse angewiesen sind.
Ob wir die beiden GenossInnen kennen?
Wahrscheinlich nicht, aber darum geht es auch nicht.
Es kann sicherlich sein, dass wir uns irgendwo auf den Barrikaden Europas in den Jahren mal getroffen haben oder bloß beim Vokü mampfen bei einem Grenzcamp, wer weiß.
Uns interessiert auch weniger, was die beiden an dem Abend gemacht haben und was sie vor hatten.
Denn unsere Solidarität oder Trauer wird sich dadurch nicht ändern. Genauso wie unsere Verbundenheit mit Leuten, die gegen Staat und Kapital kämpfen.
Wir hoffen, daß sich die Leute aufgrund der Schwere der Situation nicht einschüchtern lassen werden und dass wir gemeinsam die Unterstützung für den weiteren Genossen, der gerade im Krankenhaus, in den Händen der Bullerei liegt, organisieren können, genauso wie weitere Repressionsschläge, die demnächst kommen könnten erfolgreich zurückschlagen werden.
Dennoch werden die Behörde solch einen Fall bestimmt nicht aus den Augen verlieren und weiter versuchen uns durch ihre Ermittlungen in die „Defensive” zu drängen.
Lasst uns ihnen zeigen, dass unsere Revolte unaufhaltsam ist und dass wir fähig sind aus der Defensive heraus wieder den Angriff gegen das Bestehende zu organisieren.
Wie wir es schon oft gemacht haben.
Der beste Weg um Zoe zu trauern und Mickäel zu unterstützen bleibt die Fortsetzung des Kampfes gegen die Gegenwart. Viel mehr schaffen wir erstmal nicht zu sagen, denn die Traurigkeit dieses Falles lässt sich schwer in Worten oder kämpferischen Slogans ausdrücken.
Raphaels Adresse:
Raphaël SERRES numéro d’écrou : 290890 Maison d’arrêt de la Santé 42 rue de la Santé – 75014 Paris
Soliwebseite auf französisch: www.lesinculpes.over-blog.com
In Trauer um Zoe und Gedanken an alle, die mit uns Trauern
Unsere Gedanken gehen an Mickael
Solidarität mit Raphael
Solidarität mit allen Gefangenen
ABC Berlin