„Prisoner’s Talkin’ Blues“ (Os Cangaceiros)
Folgender Text ist ein Auszug aus dem Buch Os Cangaceiros – Ein Verbrechen namens Freiheit, Cumbula Velifera & Unruhen Publikationen, Amsterdam, September 2013. Das Buch gibt es an den üblichen Orten und kann über unruhen@hushmail.com bezogen werden. Die industrielle Domestizierung aus demselben Buch.
Das Schicksal der Häftlinge innerhalb der Mauern ist untrennbar verbunden mit den allgemeineren Bedingungen, die den Massen der Armen heutzutage in der Gesellschaft vorbehalten sind. Das hat die Welle der Meutereien von Mai 1985 bewiesen, die hauptsächlich von Untersuchungshäftlingen durchgeführt worden sind, und zwar ausschließlich in den Maisons d’arrêt [Untersuchungshäftlinge und Strafen bis zu einem Jahr] – die Haftanstalten für Langzeitgefangene sind ruhig geblieben, aber selbstverständlich erhalten nun einige Untersuchungshäftlingen „lange Strafen“ und werden dann dorthin wechseln. Die Mehrheit der Meuterer gehörte zu jenen „Untersuchungshäftlingen“, die schlussendlich doch alle verurteilt werden, mindestens für solange, wie die Zeit, die sie bereits auf ihr Urteil wartend verbüßt haben: dabei handelt es sich um „Kleinkriminelle“, also Menschen, die wir draußen sehr oft antreffen können. Die Revolte, die sich innerhalb der Mauern anbahnt, ist nichts weiter als die Fortsetzung der Revolte, die sich draußen bereits in den Vorstädten vollzogen hat: und eine Konsequenz ihrer Repression.
Im Frankreich von 1985 zählen die Gefangenen zu den wenigen Menschen, die sich noch mit Herz und Verstand der Revolte hingeben.
Diejenigen, die der generellen Niederschlagung draußen noch entkommen, erkennen sich zwangsläufig in der Revolte der Häftlinge wieder: wegen ihrem Inhalt sind sie forciert, ihr eine universelle Bedeutung einzuräumen. Zumindest eine Sache ist sicher; die Revolte gegen die Gefängnisse bricht auch draußen los.
Diese Welle der Revolten war ebenso gegen das Gefängnis wie gegen die Justiz gerichtet. Bisher sind die Revolten über die Strafanstalten hergefallen, mittlerweile fallen sie auch über das Gerichtswesen her. Die Häftlinge haben sich bereits gegen die Vollstreckung ihrer Strafe aufgelehnt, jetzt revoltieren sie gegen das Urteil der Gesellschaft. Bisher haben die Häftlinge gegen die Art und Weise protestiert, wie sie innerhalb der Mauern behandelt werden, mittlerweile protestieren sie auch gegen die Art und Weise, wie sie von einer Gesellschaft behandelt werden, deren Allgemeinwohl von der Justiz repräsentiert wird. Die Revolte der Gefangenen wird von den Staatspartisanen um so mehr als gefährlich empfunden, wenn sie mit der Zerschmetterung des gesamten Rechtssystems droht, welches das Kernstück des Staatsapparats und das Sicherheitsventil der bürgerlichen Gesellschaft bildet. Es war also nur logisch, dass ihre Revolte draußen auf ein Echo stoßen würde.
Unser Ziel ist es nicht unbedingt, im Drinnen ausgedrückte Forderungen, die nach einzelnen Verbesserungen der Haftbedingungen streben, draußen zu unterstützen. Wir sind solchen Forderungen gegenüber nicht kleinlich: wir wissen, wie die Dinge im Inneren ablaufen. Wir versuchen an erster Stelle, die Idee selbst des Gefängnisses zu bekämpfen. Wir wollen die Zerstörung dieser verfluchten Institutionen erreichen. Wir können also jede Form der Forderung ermutigen und hoch heben, die diesen einzigartigen, lebensnotwendigen Anspruch beinhaltet: „Luft!“.
Wir gehören zu jenen Menschen, die riskieren, im Gefängnis zu landen und verweigern somit gänzlich das unabwendbare Schicksal.
Die Schwierigkeit, die sich uns, den sich nach praktischem Reichtum sehnenden Armen, stellt, besteht darin, wie wir die Wörter finden, um deutlich unsere Revolte und unsere Sehnsucht auszudrücken – das heißt Wörter, um uns gegenseitig zu verstehen. Die Strategie des Feindes ist zweigleisig: einerseits dafür zu sorgen, dass die Armen sich von den lebenswichtigen Fragen abwenden und stattdessen gegen Windmühlen ankämpfen, und andererseits, wenn sie das dann tun, sie davon abzuhalten, sich zu treffen und ein gemeinsames Verlangen zu entdecken.
Die meisten Erklärungen, die man bezüglich der Revolte der Gefangenen vernehmen kann, sind ganz einfach falsch, weil sie die juristische Sprache des Staates sprechen. Das Ziel von all diesem Pseudo-Gerede ist es, dass die Armen, in diesem Fall die Gefangenen, nicht einmal mehr die Wörter finden, um ihre Unzufriedenheit und ihre Revolte auszudrücken: sie können nicht miteinander sprechen, da sie sich nur mit der Sprache ihrer Meister ausdrücken können. Es ist das Ziel der Staatspartisanen und der Verteidiger der bestehenden Gesellschaft, dass die Armen nur noch im Stande sind zu reden, wenn sie sich an ihre Meister wenden. Jeder, der die Rechtssprache spricht, spricht mit dem Staat – ausschließlich mit dem Staat – und zwar nach dessen Muster. Diese Lüge, die es nicht erst seit gestern gibt, soll die Revolte der Armen ein für alle Mal zivilisieren.
Denn man kann ein modernes kapitalistisches Land nicht mit roher Gewalt regieren, indem man an jeder Straßenecke Panzer stationiert. Das Gleiche gilt für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Gefängnissen. Ein moderner Staat ist gezwungen, all die formellen Freiheiten zu garantieren, die notwendig sind für den einwandfreien Verlauf der Geschäfte. Zwei wichtige kapitalistische Länder, Argentinien und Brasilien, haben das voriges Jahr erkannt (das Bürgertum Südafrikas beginnt das auch gerade zu verstehen). Ein kapitalistisches Land kann nicht gedeihen, wenn es auf die Armen feuert, sobald diese sich in Bewegung setzen: damit sie sich mit ihrer Arbeit am Reichtum der Gesellschaft beteiligen, muss es ihnen die Sprache der Staatsräson aufdrängen und ihre Köpfe mit universellen und abstrakten Konzepten aus der bürgerlichen Gesellschaft füllen. Sie müssen sich mit dem Allgemeinwohl dieser Gesellschaft identifizieren, und es war gerade der historische Kraftakt des Bürgertums, dem dieses Meisterstück gelungen ist.
Jeder moderne Staat muss notwendigerweise diese armen Wilden zivilisieren, einschließlich jener, die von der Gesellschaft in den Gefängnissen isoliert wurden. An dieser Front tobt also die Schlacht der Ideen. Die Staatspartisanen wissen, dass sie die Revolte der Häftlinge nicht mit roher Gewalt – welcher sie sich zu Beginn allerdings mit den entsprechenden Risiken bedienen müssen – niederschlagen werden, sondern mit dem Pseudo-Dialog, mit der Lüge. Wir hingegen müssen die angeblichen Rechtsfragen in soziale Fragen verwandeln, und die Operation, welche die modernsten Staatspartisanen im Moment durchzuführen versuchen, vereiteln.
Wie kürzlich ein Ex-Häftling bezüglich der Gefängnisverwaltung gesagt hat, „versuchen sie immer, dich an deiner Strafe teilhaben zu lassen; das ist ihr Dialog, alles andere ist unmöglich“. Es gibt sogar Menschen, die sich darin spezialisiert haben; die Sozialarbeiter. Die sogenannte „Sozialarbeit“ hat ihren Ursprung in den Praktiken der Kirche. Historisch ist sie aus dem Austausch von Almosen gegen das Bußsakrament hervorgegangen. Die Sozialarbeiter sind laizistische Pfaffen, die im Namen des Staates predigen. Das Justiz- und Gefängnissystem dominierende Gedankengut geht in dieselbe Richtung. Sie träumen sogar davon, dem Status des Wärters neuen Glanz zu verleihen, indem man ihm die Attribute des Erziehers zukommen lässt. Früher war die dem Gefangenen auferlegte Buße ohne Umschweife, physisch und sehr brutal (man braucht nur die grausamen Berichte von Überlebenden aus der Strafkolonie zu lesen); heute gibt sie sich moralischer, fast schon spirituell, zugleich aber behält sie die Grundlagen der Gefangenschaft und die damit implizierte Gewalt bei (es sterben viele Menschen in den französischen Gefängnissen). Die Repression übernimmt einen moralischen Inhalt und sogar Rechtfertigungen. Auch will sie in die Köpfe eindringen und verhindern, dass die Revolte, die nunmehr chronisch ist in den Gefängnissen, ihre Wörter finden kann.
Die aktuellen Verantwortlichen der Repression versuchen, einen endlosen Pseudo-Dialog zu provozieren und aufrechtzuerhalten über die vielfältigen Verbesserungen, welche in das Gefängnissystem eingeführt werden könnten, und rechtfertigen somit dessen Existenz. Dabei handelt es sich um eine Hintertür, um die Häftlinge von der Richtigkeit ihrer Strafe zu überzeugen. Der Staat meint bessere Chancen zu haben dies zu erreichen, wenn er der Repression den Pseudo-Dialog hinzufügt, da die bloße physische Gewalt nicht ausreichen wird.
Indem sie das Konzept der Strafe an sich verweigern, stehen die Delinquenten offen zu dem, was sie in der Gesellschaft sind. Die Häftlinge wissen ganz genau, dass das Strafgesetzbuch abhängig ist von der Zeit und jenem Staat entspricht, welcher zur aktuellen Gesellschaft gehört: das Gleiche gilt für das Strafverfahren.
Das reformistische Bewusstsein äußert sich immer in der Form der Rechtfertigung. Im Gegensatz dazu erscheint das Verhalten der Meuterer als nicht gerechtfertigt (wie die Zerstörungen in Fleury am 5. Mai), genauso wie ihre einzig eingestandene Begründung („Luft!“): so etwas ist nicht verhandelbar mit dem Staat. Die Häftlinge setzen sich zur Wehr gegen das Urteil, dem sie ausgesetzt sind: das Gefängnis wird nicht mehr als ein unabwendbares Schicksal wahrgenommen.¹ Die linken Erzieher, die versuchen, die Delinquenten zu rechtfertigen und Ausreden zu finden für ihre Delikte, bringen uns gerade noch so zum Lachen. Man muss sich bereits als Angeklagter im Büro vom Richter rechtfertigen (zudem kann man leicht den Überblick verlieren, wenn man sich allzu sehr rechtfertigen will: dasselbe passiert auch in Polizeigewahrsam). Man stelle sich vor, dass man sich auch als Häftling noch rechtfertigen müsse! Die Meuterer aber wissen, dass sie aus der Sicht derjenigen, die sie verurteilen, keinen redlichen Grund haben. Gegenüber dem Staat ist das Schweigen wirklich die Waffe der Armen.
Es sitzen die verschiedensten Menschen im Gefängnis. Hauptsächlich handelt es sich bei den Häftlingen allerdings um Delinquenten, die die Gesellschaft entschieden hat zu isolieren. Der Ausdruck der Delinquenz soll keine Verwirrung stiften. Sein chronischer Gebrauch ist in einer gewissen Epoche aufgekommen, um eine Gesamtheit an Verhalten zu benennen, die die kurzzeitige Auflösung der gesellschaftlichen Barrieren und die Verachtung des Gesetztes sowie fremden Eigentums gemein haben. Mit diesem Begriff identifiziert die Zivilgesellschaft den Jugendlichen, der samstagabends auf den Ball geht, um sich zu prügeln, die Hausfrau, die im Supermarkt stiehlt, den Knaben, der Raubüberfälle begeht, den Arbeiter, der Material aus der Fabrik stiehlt, oder all diejenigen, für die der Diebstahl die einzige Möglichkeit zum Überleben darstellt, also Arme jeglicher Sorte, die in unterschiedlichem Maß nicht mehr komplett integriert werden können. Es ist eine Epoche, wo die Arbeit und das Gesetz vielen Armen nicht mehr als heilig erscheinen.
„Délinquer [eine deutsche Übersetzung von diesem französischen Verb existiert nicht]: 1429, aus dem Lateinischen delinquere, verfehlen, sich vergehen, von linquere, verlassen. Delinquent, 14. Jahrhundert, aus dem [französischen] Partizip Präsens délinquens. Delinquenz, 20. Jahrhundert.“ (Larousse Etymologique)
Falls das Individuum Rechte hat, dann nur weil es auch Pflichten hat. Wenn es diese nicht erfüllt, kann es nicht ernsthaft die Ausübung seiner Rechte in der Gesellschaft und gegenüber dem Staat einfordern. Außer wenn es bereit wäre, sich zu bessern, seine Schuld abzubüßen (besonders indem es im Strafvollzug für wenig Geld arbeitet) und wenn es den nötigen Willen für eine Wiedereingliederung unter Beweis stellt (siehe den bedingten Straferlass und die überwachte Freiheit: man urteilt ein zweites Mal über das Individuum, diesmal über seine tatsächlichen Willen, sich wieder einzugliedern). Wenn der Häftling an seiner Wiedereingliederung arbeitet, so kann er hoffen, von einem Teil der Ungnade verschont zu werden: er behält einige wirksame Rechte bei. Der Staat hat nach den ersten Meutereien von 1971 und 1974 sehr schnell verstanden, dass man das Individuum besser nicht komplett von der Zivilgesellschaft isolieren sollte. Im vorliegenden Fall verpflichtet er den Verurteilten, für das Recht zu kämpfen, um erneut wieder in ihr aufgenommen zu werden. Und das ist nicht die kleinste Scheußlichkeit!
Auf jeden Fall hat die Zivilgesellschaft bereits Eintritt gefunden ins Innere der Mauern; (oft) arbeiten die Häftlinge. Sie findet Eintritt gemäß den speziellen Modalitäten, die den sozial unwürdigen Individuen vorbehalten sind. Da die Häftlinge sich außerhalb der Integrationsmechanismen der Gesellschaft befinden, kann sich die Ausbeutungsquote ihrer Arbeit als außergewöhnlich hoch und ihr Lohn als außergewöhnlich niedrig erweisen.
Es gibt alle möglichen Menschen, die behaupten, sich für die Revolte der Häftlinge zu interessieren. Viele davon sind Reformisten, die fordern, dass die Gesellschaft den Gefangenen die Ausübung ihrer Rechte anerkannt. Aber was sind das für Rechte? Das Recht der Verteidigung? Dieses gilt nur für die Sache, über die geurteilt wird, nicht für die Vollstreckung der Strafe: das Gefängnis ist ein geschlossenes Universum, wo es keinen Platz geben kann für eine „widersprüchliche Debatte“. Die Menschen- und die Bürgerrechte?
Die Menschenrechte sind nichts als Vorrechte und anerkannte Garantien für das atomisierte Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft, in der es nur Platz für zwei Sorten von Leuten gibt: für diejenigen, die Geld verdienen und diejenigen, die arbeiten. Wie könnten wir, wir die diese Gesellschaft nicht bereichern, sondern – ganz im Gegenteil – ihr Geld kosten, wie könnten wir auch nur daran denken, von diesen Vorrechten und Garantien zu profitieren? Mit welcher sozialen Aktivität könnten wir uns rühmen?
Den Bürgerrechten? Der Bürger ist das politische Individuum, das heißt ein abstraktes Individuum. Der Häftling ist kein Bürger.
Es gibt einerseits das tatsächliche Mitglied der bourgeoisen Zivilgesellschaft, das isolierte und engstirnige Individuum, das von ihr als die Essenz des Menschen angesehen wird, und andererseits die moralische Person, den Bürger. Es ist wichtig, die moralische Person (den Angeklagten, den Verurteilten) von dem realen Individuum (dem Häftling) zu unterscheiden. Letzteres ist das Individuum, das es als Mitglied der Gesellschaft versäumt hat, seine Pflichten gegenüber den demokratisch festgemachten Regeln zu erfüllen; und die moralische Person ist der Angeklagte, dem man würdevoll das Recht auf Verteidigung einräumt. Der Angeklagte ist ein Bürger.
Dem Verurteilten bleibt nichts anderes übrig, als sein Schicksal innerhalb der Mauern zu akzeptieren. Er kann seine Rechte dann nicht mehr geltend machen, da er nicht durch irgendeine Arbeit zum Reichtum der Gesellschaft beiträgt (abgesehen von der Arbeit, die er wegen der Misere oder aufgrund der Vorschriften gezwungenermaßen verrichten muss). Der Staat handelt logisch, wenn er die Möglichkeit ablehnt, Gefangenengewerkschaften zu erlauben. Er lässt dem Häftling nur einen Weg offen: seinen Leidensweg beschreiten, durchhalten und seine Strafe, den Schmerz und die Erniedrigung in aller Stille akzeptieren – und sich durch die Gefängnisarbeit komplett zu bessern. Die Justiz und die Gefängnisinstitution – laizistisch in der Theorie, religiös in der Praxis – sind Abbilder des Bürgertums. Bei der Wiedereingliederung handelt es sich um diesen stillschweigenden Leidensweg, bei dem der Häftling während der ganzen Zeit nichts zu sagen hat, seine Stimme nicht erheben darf, sich nicht beschweren und schon gar nicht protestieren darf. Dieses christliche Ideal wird immer noch von vielen Leuten im Gefängnis verinnerlicht.
Schlimmer als alles, was man im Knast erleben muss, ist dieses Gefühl der völligen Abhängigkeit gegenüber den Regeln, die selbstverständlich da sind, um das Individuum zu bändigen. Das Gefängnis hat einen Aspekt der „Um-erziehung“, ist gleichzeitig Schule und Kaserne (sehr deutlich in Großbritannien zum Beispiel, und noch deutlicher in den berüchtigten Lager einiger stalinistischer Länder). Die Willkür der Wärter ist nichts weiter als eine Zurschaustellung der Autorität der Vorschriften. Der Staat will jene Individuen komplett in den Griff bekommen, gegen welche die Kontrolle der Zivilgesellschaft in einem bestimmten Moment nicht ausgereicht hat: und somit muss er ihnen die Regeln mit Gewalt aufzwingen. Hierin gleicht das Gefängnis der Kaserne, wo man das Individuum dazu bringt, sich den wichtigsten Regeln der Gesellschaft zu beugen, dem Gehorsam und der Disziplin. Der Status des Soldaten und der des Gefangenen haben folgendes gemeinsam: es handelt sich um ein Individuum, dessen Schicksal komplett vom Staat abhängt. Das geht soweit, dass man die Schikanen der Hierarchie ohne Murren erdulden muss. Trotz all der Vergünstigungen und Kompromisse, die die Gefängnisverwaltung zugestehen könnte – und wir wissen, dass sie eher geizig ist in dieser Hinsicht –, wird es immer diese spontane Rebellion des Häftlings gegenüber den Vorschriften geben.
Der Beschuldigte hingegen war noch nicht das Objekt der moralischen Verurteilung: man hält ihn gänzlich für den Staat, an einem sicheren Ort, zur Verfügung. Wir können nicht oft genug wiederholen, wie sehr die Lage eines Untersuchungshäftlings der einer Geisel ähnelt. Übrigens können wir anmerken, dass Großbritannien – welches die französischen Reformisten ganz scharf gemacht hat mit seinem „habeas corpus“ – 1980 die Untersuchungshaft in sein Strafverfahren eingeführt hat, also zu einem Zeitpunkt, wo der soziale Krieg einige Fortschritte gemacht hat.
Nebenbei können wir darauf hinweisen, dass das Gefängnis, obgleich die linken Humanisten etwas anderes behaupten, für immer ein Ort der ultimativen Erniedrigung bleiben wird: als Beweis können wir die aktuellen Regierungsmaßnahmen anführen, welche darauf abzielen, den kleinen Delinquenten vor dem Gefängnis zu schonen, denjenigen, der sich noch nicht komplett von der Gesellschaft ausgeschlossen hat, der bloß ein harmloses Delikt begangen hat und von dem man erwarten kann, dass er sich mithilfe seiner Arbeit wieder in das Sozialsystem eingliedern wird. Dann liegt es an ihm, dies unter Beweis zu stellen, indem er X Stunden eine „gemeinnützige“ Arbeit verrichtet.
Der Staat wird immer einzelne Verbesserungen im täglichen Leben des Häftlings zugestehen können, doch er wird ihm niemals auch nur das kleinste Stückchen Würde eingestehen können. Die Gefängnisdisziplin wird immer das letzte Wort haben. Die Forderung, dem Häftling die gleichen Rechte einzuräumen wie dem Angeklagten (zum Beispiel das Recht, dass man im Gerichtssaal von seinem Anwalt unterstützt wird), hat gar keine Chance erfüllt zu werden, weil der Häftling im Gegensatz zum Angeklagten keine juristische Person ist. Der Häftling ist ein reales Individuum, der Gesellschaft nicht würdig.
Die Reformisten verlangen, dass man dem Häftling die soziale Würde zugesteht, anders ausgedrückt, die Menschenrechte. Aber woraus besteht diese Würde? Es ist die Würde, die die bürgerliche Demokratie dem Arbeiter zuspricht. Natürlich sind die Häftlinge manchmal Arbeiter, sehr schlecht bezahlte Arbeiter. Es ist die Gefängnisverwaltung, die sich darum kümmert, ihre Arbeitskraft an verschiedene Arbeitgeber zu verkaufen, und es ist auch die Gefängnisverwaltung, die dabei das Geld einsteckt: schließlich ist der Häftling ihnen eine Belastung und kostet Geld. Würde man dem Häftling einen normalen Lohn gewähren, dann würde der größte Teil für seine Unterhaltungskosten (die die Gefängnisverwaltung einbehält), seine Anwaltskosten und seine Geldstrafen draufgehen, und zusätzlich würde er damit noch die Opfer seiner Straftaten entschädigen!
Inwiefern haben die Armen in der Zivilgesellschaft bürgerliche und politische Rechte? In der Form des Zwangs. Die Zivilgesellschaft bestimmt das gesamte „System der Bedürfnisse und der Arbeiten“. Die Armen beteiligen sich nur, weil sie Geld gewinnen für andere, denen sie gezwungenermaßen die Ausbeutung ihrer Arbeit zugestehen. Das wahre Bedürfnis, welches das Sozialsystem kreiert und reproduziert, ist das Bedürfnis nach Geld. Die Armen erleben dies unter der einzigartigen Form des Mangels, und infolgedessen in Form der Notwendigkeit. Nur die Bürgerlichen haben eine positive Beziehung mit dieser Essenz der Gesellschaft. Gewiss, die bürgerliche Demokratie proklamiert, dass jeder frei ist Geld zu gewinnen. Sie gesteht jedem das Recht zu Geschäfte abzuwickeln. Jedes Individuum kann somit Fuß fassen in der Welt – es existiert bloß eine Welt, die der Geschäfte. Und die moderne bürgerliche Gesellschaft, so wie es sie in Europa, in den Vereinigten Staaten und in Japan gibt, ermöglicht vielen Armen, den Glauben daran aufrecht zu halten, dass sie Geld gewinnen. Der Zwang, der auf den Lohnarbeiter ausgeübt wird, und die Notwendigkeit, die all seine Bedürfnisse innerhalb der gleichen Grenze festlegt, verflechten sich somit in die Sprache der Gesellschaft. Die brutale Herrschaft der Notwendigkeit verwandelt sich auf rätselhafte Weise in ihr Gegenteil, und so kommt es, dass es motivierte Arbeiter gibt, zufriedene Konsumenten, verantwortliche Wähler und sogar Knastbrüder, die ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft wieder gutmachen…
Die Notwendigkeit des Geldes herrscht mittels einer Vielzahl an Rechtsverhältnissen, die sich selbstverständlich durch Erzwingung aufrechterhalten. Und jede Form der Unzufriedenheit stellt, indem sie ausgedrückt wird, eine Verletzung dieser Verhältnisse dar, auf welche die Gesellschaft mit dem extremsten Zwang antwortet, dem Gefängnis. Diejenigen, die niemals arbeiten, sind Ausgestoßene.
Zusätzlich zur Isolation, die bereits das atomisierte Individuum in der Zivilgesellschaft charakterisiert, kommt dann noch die Gefängnisisolation hinzu. Der eingesperrte Delinquent ist das Objekt einer wahren sozialen Verfluchung, die sich auch in der relativen Gleichgültigkeit gegenüber den Meutereien äußert. Wenn nur all jene, die bereits mit dem Gefängnis zu tun hatten, oder jene, die Verwandte dort haben, die Meutereien unterstützen würden, indem sie die Bullen aus einem Hinterhalt angreifen (so wie das im Mai 1985 in Rouen und in Montpellier versucht wurde)… All diese Menschen sind sich nicht bewusst, dass sie eine soziale Gefahr bilden: und manchmal reicht es aus, sich dessen bewusst zu werden, um wirklich eine zu werden. Der Staat behandelt all die Delinquenten wie eine soziale Gefahr, aber er zerstört sie einer nach dem anderen. Das Recht kennt nur das einzelne Individuum, das als eine Abstraktion gegenüber der Gesellschaft angesehen wird. Es ist aufgrund dessen, was er konkret in der Gesellschaft darstellt, dass ein Armer verurteilt wird.
Obwohl der Delinquent als isoliertes Individuum verurteilt wird, revoltieren die Gefangenen doch als kollektives Subjekt. Nachdem man sich erst innerhalb der Mauern befindet, ist es wahrlich unwichtig, wieso man sich dort befindet: man ist zusammen, alle in der gleichen Scheiße und gleich behandelt. Die Häftlinge revoltieren gegen ein gemeinsames Schicksal.
Was auch immer die speziellen Ursachen der Meutereien sein mögen, so werden sie doch nie ein Ende finden durch irgendeine Reform oder kleine Verbesserung, weil man im Gefängnis dauernd für irgendwelche Kleinigkeiten betteln muss, die draußen absolut üblich sind. In einer dermaßen verzweifelnden Umgebung wird solch einer Kleinigkeit eine große Bedeutung beigemessen und dies kann eine Gelegenheit bieten für eine Revolte: an Gelegenheiten wird es niemals fehlen. Es mag zwar vorkommen, dass die Gefängnisverwaltung mithilfe einer Repression und anschließenden Veränderungen kurz für Ruhe sorgen kann; doch deren Kurzlebigkeit ist schon vorbestimmt.
Diese soziale Kritik des Rechts konnte nur aus dem Inneren der Gefängnisse kommen, denn wenn die Justiz die Individuen einen nach dem anderen verurteilt und das einzelne Schicksal dabei eine Privatangelegenheit bleibt, dann sperrt es sie gemeinsam ein. Genau hier entstehen die Bedingungen einer Revolte, die sich gegen die Autorität der Gefängnisverwaltung und die Konditionen des Eingesperrtseins wendet, und allgemeiner gegen ein Sozialsystem, das sich auf das Gefängnis stützt. Von hier aus kann, indem man sich auf die kollektive Revolte bezieht, draußen eine Bewegung entstehen, die sich nicht nur in diesem menschlichen Protest wiedererkennt, sondern auch ihre Auswirkungen vergrößert: etwas, das nicht in einer unilateralen Opposition zu den Konsequenzen steht, sondern das sich in einem offenen Konflikt befindet mit den Voraussetzungen des Staates.
Arbeiter können für Lohnerhöhungen kämpfen. Ebenso können aufsässige Häftlinge mithilfe ihrer Aktion Strafverminderungen erreichen. Die Gefangenen kämpfen nicht für eine allgemeine Reform der Gefängnisbedingungen, genauso wenig wie streikende Arbeiter sich um eine Arbeitsreform bemühen: sie überlassen derartige Sorgen den bürokratischen Gewerkschaftlern (und einer der bedeutsamen Aspekte der Revolte vom Mai war die quasi unmittelbare Flucht der ASPF²: dass sie sich einer niederträchtigen Radiosendung hingegeben hat, ist nicht verwunderlich, aber dass sie gleich danach von den Häftlingen aus Fleury angeprangert wurde, zeugt von der Deutlichkeit der Ereignisse). Das Einzige, was die Häftlinge innerhalb der Grenzen des bestehenden Systems in Würde verlangen können, ist ein wenig Luft. Reformen wird es ohnehin geben – und zwar immer, um das entfachte Feuer zu besänftigen. Die erreichten Abänderungen des Haftregimes waren immer verbunden mit einem Kräftemessen mit dem Staat. Die Häftlinge wissen auch durch Erfahrung, dass diese Vorteile, die mithilfe der schlimmsten Drohungen errungen wurden, sich sehr schnell in eine weitere Schandtat verwandeln, sobald wieder Ruhe eingekehrt ist.
Die Revolte der Gefangenen ist immer eine universale Drohung, da diese Individuen im Namen des Allgemeinwohls der Gesellschaft eingesperrt sind. Deshalb entsteht auch immer ein wichtiges politisches Ereignis daraus: jede Welle von Meutereien erzeugt irgendein Projekt, das sich die Reformierung der Gesetze zum Ziel gesetzt hat.
Die Linke hatte versprochen, das gesamte Gefängnisregime zu verändern, und hat schlussendlich nicht einmal den Versuch gewagt. Sobald sie an der Macht war, hat sie schnell verstanden, dass das ein Spiel mit dem Feuer bedeuten würde. Es existieren keine möglichen Veränderungen des Haftregimes, außer die, den Eingesperrten Luft zu verschaffen. Die Linke weiß sehr wohl, dass die geringste Öffnung endlose Unruhen mit sich bringen könnte. Inzwischen ist das Gefängnis eine Sache, mit der jede Regierung sich ganz sicher Scherereien einhandeln wird. Sie wird sich die Finger schmutzig machen, ganz gleich, wie sie es anstellt.
Das Konzept des Allgemeinwohls ist das Herz des Rechtssystems, das die Meuterer angreifen. Der Staat und seine Partisanen beziehen sich unaufhörlich darauf, im Gegensatz zu dem latenten Kriegszustand, der in der wirklichen Gesellschaft wütet. Sie erzeugen eine dermaßen stark ausgebildete Identifizierung der Menschen mit diesem angeblichen Allgemeinwohl, dass im Frankreich von 1985 jede Trennlinie zwischen den Armen und der Zivilgesellschaft aufgehoben zu sein scheint; dass die Delinquenz immer mehr Opfer in den eigenen Reihen der Armen verursacht. Auf der einen Seite verwandeln sich die Orte, an denen das Geld und die Waren im Überfluss vorhanden sind, immer mehr in uneinnehmbare Festungen, auf der anderen Seite werden die Bedingungen, die man den Arbeitenden aufzwingt, immer unerträglicher. Dies führt zu deutlich härteren Bedingungen für diejenigen der Armen, die nicht arbeiten, indem es die Isolation jedes Einzelnen auf seiner Suche nach Geld noch verstärkt (und die Verbreitung von Heroin bei den Jugendlichen verschlimmert diesen Prozess noch mehr). Der Staat und das Bürgertum errichten ein System militärischer Verteidigung des Privateigentums, der Zirkulation des Geldes und der Waren, und lösen gleichzeitig den Krieg aller gegen alle aus, den erbarmungslosesten Konflikt des Eigeninteresses. Die Autorität des Staates erkennt ihr Fundament in der konfusen Feindseligkeit wieder, die in der ganzen Gesellschaft herrscht.
Aus diesem Blickwinkel erscheint die Revolte der Gefangenen als eine Möglichkeit, diese Lage zu überwinden. Der Protest gegen die Justiz und gegen das Gefängnis kristallisiert das Allgemeinwohl von all den Armen heraus, die abhängig sind von den Notwendigkeiten und die auf verschiedenste Weise jene Repression ertragen müssen, die im Namen des Allgemeinwohls der bestehenden Gesellschaft ausgeübt wird.
Die Solidarität mit den Meutereien beruft sich nicht auf Empfindungen und wendet sich auch nicht an eine sogenannte öffentliche Meinung. Wir wollten ganz einfach mit denen sprechen, die sich drinnen befinden. Und die Tatsache, dass ihre Revolte stark genug war, um draußen eine solche Reaktion hervorzurufen, ist nicht ihr kleinster Verdienst.
Yves Delhoysie
Os Cangaceiros, Nr. 2, November 1985
1 So kommt es immer häufiger vor, dass Angeklagte mit einer Haltung der offenen Rebellion gegenüber dem Gericht auftreten, und den Anspruch der Richter und der Geschworenen, über sie zu urteilen, zurückweisen. Wir erinnern uns, wie 1984 in Paris zwei Personen, die in separaten Fällen für Überfälle angeklagt waren, nacheinander, zu Beginn derselben Sitzung des Schwurgerichts, abgelehnt haben, dass der abscheuliche Gerichtspräsident Gitesse über sie urteilt – derselbe, der während der vorigen Sitzung den Freispruch des nicht weniger abscheulichen Polizisten Evra veranlasste, Mörder zweier junger Autofahrer. Die Weigerung der Angeklagten hat für eine Verfahrenskrise im Schwurgericht der Region Seine gesorgt. Erst kürzlich haben die Brüder Ghellam einen schönen Skandal provoziert:
„Zwei Brüder, die angeklagt sind, einen Überfall mit Geiselnahme begangen zu haben, und die am Montag und Dienstag vor dem Schwurgericht von Alpes-Maritimes erscheinen sollten, haben ihre Anwälte gleich nach der Eröffnung der Gerichtsverhandlung abgelehnt, und somit das Gericht gezwungen, den Prozess auf ein späteres Datum zu verlegen.
Michel Ghellam (26 Jahre) und sein Bruder Roland (37 Jahre), die beschuldigt werden, am 9. Oktober 1980 einen bewaffneten Raubüberfall auf den Hauptsitz der Post in Antibes begangen zu haben, übten scharfe Kritik an der Justiz „der Reichen“, ihren eigenen Anwälten, „die diese verdorbene Justiz zum Leben brauchen, sie aber nicht anprangern“, den „Befehle befolgenden“ Journalisten und den Polizisten, die für ihre Überwachung verantwortlich sind und „nur auf eine Geste ihrerseits warten, um sie abzuknallen wie Kaninchen“. (Libération, 24.9.1985)
Nach einer langen Unterbrechung der Sitzungen hatte das Gericht entschieden, zwangsweise zwei Anwälte zu bestimmen und den Prozess für den 7. Oktober anzusetzen. Daraufhin haben sie sich drei Wochen später geweigert, am Prozess teilzunehmen. Natürlich kann man sich ein solches Verhalten nur erlauben, wenn man für ein sehr großes Delikt angeklagt ist, oder ein sehr kleines: wenn man sehr viel zu verlieren hat, oder sehr wenig. Im Rahmen einer harmlosen Affäre hat eine Gruppe Punks aus Lyon es im Frühling 1985 geschafft, die Justiz lächerlich zu machen: da einer von ihnen wegen dem Diebstahl von Decken aus einem Schlafwagon der SNCF angeklagt war, haben seine Freunde im Saal ein Flugblatt verteilt mit dem Titel „Keine Gnade für Deckenklauer, hacken wir ihnen die Hände ab!“… Und dem Gerichtspräsidenten, der ihm gemeinnützige Arbeit vorschlug, hat der Angeklagte seine klare Ablehnung zu verstehen gegeben (schlussendlich hat er 15 Tage auf Bewährung erhalten): dies ist der erste uns bekannte Fall, wo jemand die Würde hatte, die gemeinnützige Arbeit zu verweigern. Vielleicht handelt es sich bei dieser Gruppe von Punks um dieselben, die die erfreuliche Initiative ergriffen haben, das Plakat „Du fric ou on vous tue“ (siehe Os Cangaceiros Nr. 1) in Lyon zu vertonen. Außerdem können wir auch noch an die Bewegung der massiven Forderungen nach vorläufigen Entlassungen erinnern, welche letztes Jahr in Lyon entstanden ist, die Richter in Verlegenheit und Panik versetzt hat und im September 1985 wieder zum Vorschein gekommen ist im Gefängnis von Baumettes in Marseille.
2 Association Syndicale des Prisonniers de France (ASPF): eine am 15. April 1985 im Gefängnis von Fleury-Mérogis gegründete Gefangenengewerkschaft, die dafür eingetreten ist, dass die Häftlinge sich zusammenschließen und sich selbst vertreten können. Im Dezember 1985 ist sie von der Gefängnisverwaltung zerschlagen worden. Am Ende ihrer kurzen Lebensdauer zählte sie 1700 Mitglieder aus über 35 Gefängnissen.