Silvester zum Knast – Demonstration in Berlin
Silvester zum Knast – für die Zerstörung aller Formen der Einsperrung
Seit vielen Jahren gibt es an Silvester in Berlin eine Demonstration zum Knast in Moabit, um den Inhaftierten dort – stellvertretend für alle Gefangenen – zu zeigen, dass sie nicht allein und vergessen hinter den grauen Mauern vor sich hin vegetieren. Denn auch in deutschen Knästen läuft nicht immer alles so glatt wie mensch sich das vorstellt: eines der letzten Beispiele war die Revolte im Jugendknast Kiefergrund im letzten Sommer, wo Gefangene ihre Zellen zerstört haben, um auf die Prügel der Schließer zu antworten. Oder der internationale Hungerstreik, der von dem anarchistischen Genossen Gabriel Pombo da Silva für den Zeitraum vom 20. Dezember bis zum 1. Januar 2010 initiiert wurde.
Dies sind Versuche gegen die herrschende Ordnung auch hinter den grauen Mauern vorzugehen und zeigen den Unwillen sich mit diesem System abzufinden. Denn auch Knast ist ein Kampffeld und das Leben hört dort nicht auf.
Uns ist es wichtig immer wieder auch hier draußen Zeichen zu setzen, die verdeutlichen, dass wir alle Institutionen der Einsperrung verachten und nicht als Lösung sozialer Konflikte, die durch die gegenwärtige Organisierung der Gesellschaft verursacht werden, ansehen. Damit auch denjenigen, die nicht aufgehört haben auch drinnen weiter zu kämpfen, klar ist, dass hier draußen ihre Kämpfe wahrgenommen werden und nicht in Vergessenheit geraten. Ohne dabei unsere Seite in diesen Kämpfen idealisieren zu müssen, weil sie aus den Gefängnissen entstehen, sondern sich mit denjenigen, die dort aktiv werden, eine Komplizenschaft entwickelt.
Deshalb zeigen am letzten Tag im Jahr mehrere hunderte Menschen was sie von den Knästen halten. Denn Knäste und alle weiteren Einrichtungen zur Ein- und Wegsperrung sind ein fester Teil der kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch soll uns tagtäglich vor Augen geführt werden was mit denjenigen passiert, die sich nicht an die vorgeschriebenen Regeln und Normen halten und sich diesen widersetzen. Denn die zunehmenden Prozesse der Verarmung garantieren für viele einen sicheren Platz in den Kerkern des Staates.
Die Schlangen vor den Armenküchen schwellen an. Die Anzahl der Ladendiebstähle in den Supermärkten nimmt ebenso zu. Die Pfändungsprozesse stapeln sich. Und während die unten versuchen nicht vor Hunger zu sterben, bereiten sich die oben auf das Schlimmste vor, auf die gefürchtete soziale Explosion. Einer/m jeden die/der das Gesetz bricht wird “Null Toleranz” garantiert; für Einheimische und Migrant_innen werden neue Haftstrukturen vorbereitet; Sicherheitstrupps und “Freiwillige” patrouillieren durch die videoüberwachten Nachbarschaften.
Gefängnisse sind keineswegs bloße Nebenprodukte des Staates, die darauf abzielen „Abweichler_innen“, nicht konforme, überflüssige oder unerwünschte Menschen zu unterdrücken und zu isolieren, sie sind im Gegenteil ein elementarer Bestandteil der Gesellschaft.
Das Gefängnisse ist nicht die logische Erweiterung der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft eine Erweiterung des Gefängnisses, in welchem die Strafanstalten nur den offensichtlichsten und brutalsten Aspekt eines Systems darstellen, welches uns alle zu Kompliz_innen und Opfern, uns alle zu Eingeschlossenen macht.
Das soziale Gefängnis ist dort präsent, wo die sozialen Beziehungen entfremdet werden, wo die Menschen der sozialen Kontrolle und der Überwachung unterworfen werden, wo sie nicht mehr fähig sind miteinander solidarisch zu handeln und systemkonformes Gedankengut unüberlegt reproduzieren.
Dieser Logik wollen wir durch Solidarität und der Subversion aller sozialen Beziehungen entgegentreten und uns für die Zerstörung aller Formen der Einsperrung einsetzen. Aber diese Zerstörung kann nur zusammen mit der Zerstörung der gegenwärtigen ausbeuterischen Beziehungen einhergehen, aller Beziehungen, die unser Leben erniedrigen und gegen diejenigen, die uns als ruhige Sklaven dieser kapitalistischen Ordnung haben wollen.
Ein Tag, um unseren Hass auf die permanente Bedrohung durch die Gefängnisse und das soziale Gefängnis an sich zu zeigen kann Silvester sein. Sicherlich auch ein Tag, an dem wir unsere Solidarität mit Menschen zeigen, die aufgrund ihrer expliziten Verachtung dieses Systems sich in Moabit eingesperrt sehen, wie gerade Tobias oder die Gefangenen des 1. Mai zeigen.
Aber vor allem ein Silvester, wo wir entschlossen die Einschüchterungsversuche des Geistes der Repression, seiner Kerker und seiner Diener_innen zurückweisen, wo wir uns nicht scheuen auszusprechen, was wir von allen Zwangsanstalten und ihrer Logik halten: dass sie zerstört werden müssen innerhalb eines Prozesses, der die ganzen Zustände umwirft, um zu einer herrschaftsfreien Welt zu gelangen.
Und natürlich auch in Erinnerung an Dennis und Oscar Grant, die am letzten Silvesterabend bzw. in den ersten Stunden des neuen Jahres von den schießwütigen Schergen des Staates erschossen wurden.
Wie jedes Jahr: Silvester zum Knast!
Für die Zerstörung aller Formen der Einsperrung und des sozialen Gefängnisses!
Am 31. Dezember 2009 um 22:45 Uhr vom U-Bhf Turmstrasse zur JVA Moabit.
Auf der Abschlusskundgebung werden Collectif Mary Read
(Radical HipHop aus St. Etienne) ein paar Songs spielen.
Bereits zwei Tage zuvor am 29.12. werden Collectif Mary Read
in der Kadterschmiede in der Rigaer94 ein Benefitkonzert spielen.
Den Aufruf als Flugblatt zum ausdrucken und verteilen.
Ein Interview zur Demo, erschienen am 30. Dezember in der Tageszeitung Neues Deutschland:
Gefangene nicht vergessen
Seit über 20 Jahren gibt es die Silvester-Demos zum Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit
Vor der JVA Berlin-Moabit finden vor allem für politische Gefangene immer wieder Knastkundgebungen statt. Robert Schulz von der Gruppe »Anarchist Black Cross« bereitet mit anderen Berlinern die Demo »Silvester zum Knast« vor, die alle Inhaftierten adressiert. Mit ihm sprach Niels Seibert.
ND: Am Silvesterabend, während andere zu Hause mit Sekt anstoßen, stehen Sie auf der Straße in Berlin-Moabit, warum?
Schulz: Seit über 20 Jahren gibt es die Silvesterdemo zum Knast in Moabit, um den dort inhaftierten Gefangenen, stellvertretend für alle Gefangenen, Grüße über die Mauer zu schicken. Gerade in der Zeit zum Jahresende, in der es viel um Familie, Zusammensein und Miteinander geht, ist es wichtig, den Inhaftierten zu zeigen, dass sie nicht alleine und vergessen sind. Die Gefangenen sind auch ein Teil der Gesellschaft, der allzu oft ausgegrenzt wird. Ausgrenzung und Isolation ist eine Funktion von Knästen. Und die wollen wir durchbrechen – mit unseren bescheidenen Mitteln.
Was kritisieren Sie außerdem an Gefängnissen?
Knast soll eine resozialisierende Wirkung haben. In den vergangenen Jahrhunderten hat sich jedoch gezeigt, dass diese Aufgabe nicht erfüllt werden kann. Im heutigen Gefängnissystem heißt Resozialisierung, Gefangene durch Arbeit und Zwang zu strebsamen, arbeitsamen Menschen zu erziehen, die sich in der Gesellschaft unterordnen statt aufmüpfig und widerständig zu sein.
Sie fordern eine »Gesellschaft ohne Knäste«. Ist das nicht eine etwas utopische Forderung?
Klar, das ist erst mal ein total utopischer Anspruch. Da Knäste ein ganz wichtiger Teil dieser Gesellschaft sind, kann ihre Abschaffung nur mit der Veränderung der momentanen Verhältnisse einhergehen – hin zu einer solidarischen Gesellschaft. Nichts weniger als das ist unsere Vorstellung.
Knast-Demos und Gefangenenarbeit sind keine hippen Themen in der Linken. Woran liegt das?
Viele Leute wollen sich nicht so gerne mit Sachen beschäftigen, die unangenehm sind oder auch weh tun. Deshalb kommen Knast- und Repressionsarbeit fast immer zu kurz. Es ist kein Thema, mit dem man große Erfolge erzielen kann wie bei der Antifaarbeit, wo man beispielsweise aussichtsreich gegen einen Naziladen kämpfen kann. Antirepressionsarbeit dagegen erfordert sehr viel Aufwand und Zeit, vor allem wenn Leute neu inhaftiert werden: Unterstützung, Geldsammeln, Öffentlichkeitsarbeit und die ganzen Kontakte herstellen, gerade zu Anwälten. Und das Wichtigste: Solidarität auf allen Ebenen organisieren und mit allen Mitteln.
Aber gerade in diesem Jahr, in dem es viele Repressionsfälle und Gefangene aus der sogenannten Szene gab, haben sich wieder mehr Leute mit Repression und Knast beschäftigt. Schade, dass es über so einen Weg laufen muss.
Was erwartet den Teilnehmer auf der Demo in der Silvesternacht?
Wir treffen uns um 22.45 Uhr am U-Bahnhof Turmstraße. Nach der Auftaktkundgebung gehen wir am Moabiter Gericht vorbei bis zum Knast. Dort werden wir etwa eine Stunde lang die Abschluss-Kundgebung abhalten, Grußworte von Gefangenen verlesen und die Hip-Hop-Gruppe Collectiv Mary Read wird ein paar Songs live für die Gefangenen spielen.
Ein Artikel der Tageszeitung Taz vom 29. Dezember über die Demo am Silvesterabend und die Entfesselt
Wegsperren und weitermachen?
JUSTIZ Jedes Jahr wird an Silvester vor dem Knast in Moabit demonstriert. Dort wird Solidarität mit den Insassen bekundet und die Gerechtigkeit des Strafvollzuges grundsätzlich in Frage gestellt
Hinter Gittern – eine Redewendung, ein Symbol, eine TV-Serie, ein Lebenszustand und die gängigste und banalstmögliche Antwort, welche die Menschheit auf die große Frage der Gerechtigkeit zu geben hat. Verbrechen definieren, Täter bestimmen, sie jagen, sie fangen, sie bestrafen, das heißt: wegsperren.
Eine Position, die dieses Konzept als Ganzes hinterfragt, sucht man im breiten öffentlichen Diskurs, z. B. bei Parteien oder Medien, vergeblich. Aber es gibt sie, Gruppen von AktivistInnen, die sich ambitioniert und ausdauernd dieses Themas annehmen. So auch der “Anarchist Black Cross Berlin” (abc), der u. a. die Zeitschrift Entfesselt herausgibt. Dort wird zwar einseitig Stellung gegen die angewandte Gerechtigkeitspraxis bezogen und für die “Zuspitzung der sozialen Konflikte” plädiert, dennoch ist ihre Lektüre sehr zu empfehlen. Auch wenn man danach nicht unbedingt von der kompromisslosen Haltung der HerausgeberInnen überzeugt sein mag, so werden die LeserInnen doch mit ganz grundsätzlichen Fragen konfrontiert, die zumindest zum Nachdenken anregen werden.
Fragen, die vielleicht nicht neu sind, denen es aber an Aktualität nicht mangelt. Ist das Konzept des Wegsperrens oder der Bestrafung insgesamt tatsächlich der Gesellschaft dienlich? Werden die Gefangenen nach ihrer Entlassung bessere Menschen sein? Inwieweit trägt ein Individuum überhaupt Verantwortung für seine Handlungen, wenn doch der “freie Wille” weder von der Hirnforschung noch von der Philosophie oder Anthropologie ohne Vorbehalte bestätigt wird? Trägt die Umwelt jedes Individuums nicht gar den größten Anteil an seiner Entwicklung und wäre damit direkte Ursache seiner Handlungen – mit allen Konsequenzen? Also auch seiner “Verbrechen”? Produziert die Gesellschaft ihre Dämonen letztlich selbst? Müsste die Konsequenz demnach nicht eher auf die Gesellschaft, als auf das Individuum (den “Verbrecher”) allein zielen? Geht es überhaupt um eine bessere Gesellschaft oder eigentlich nur um den Erhalt oder die Steuerung von Macht- und Wohlstandsverhältnissen?
Die Kritik des abc am Strafregime geht ins Detail. So wird in Entfesselt z. B. das umstrittene Konzept der sog. “Sicherungsverwahrung” beleuchtet, das es der deutschen Justiz ermöglicht, Gefangene auch nach Verbüßung ihrer Strafe weiterhin in Haft zu behalten – auch lebenslang. Besonderen Wert legen die AktivistInnen aber darauf, mit ihrer Kritik nicht nur die deutschen Verhältnisse anzuprangern. In der aktuellen Ausgabe von Entfesselt wird auch ausführlich über die Bedingungen in Italien, Frankreich, Griechenland, Belgien, dem Balkan und Lateinamerika diskutiert. Oder auch über Dänemark, wo es wohl bald auch möglich sein wird, selbst Kindern ab 12 Jahren elektronische Fußfesseln aufzuerlegen und sie unter Hausarrest zu stellen.
Das abc bemüht sich, die Inhaftierten in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden. Sie veröffentlichen nicht nur die Adressen der Insassen, um zu einem Briefverkehr mit anderen Menschen anzuregen, sondern sie ruft auch auf, selbst für ihre Zeitschrift Artikel zu verfassen. So auch Werner Bräuner, der 2001 wegen Totschlags am Arbeitsamtsdirektor Klaus Herzberg zu 12 Jahren Haft verurteilt wurde (taz berichtete). Von ihm ist ein Artikel abgedruckt, in dem er die Nietzsche-Interpretation der Jungen Welt kritisiert. Zusätzlich gibt es ein Interview mit ihm über seine Tat und die Situation, in der er sich seinerzeit befand, sowie über seine späteren Haftbedingungen, die er als Folter bezeichnet. Er habe seine 18 Monate U-Haft in einer 7(1)/2-qm-Zelle mit einem persönlichkeitsgestörten Mithäftling verbringen müssen. Außerdem soll er unter Druck gesetzt worden sein, seine Tat nicht als politisch darzustellen, weil ihm dann Isolation und Zwangsmedikation in der Psychiatrie drohe.
Das abc und Entfesselt erwecken den Eindruck einer vorbehaltlosen Sympathie mit Gefangenen. Daher sind ihre Informationen mit Vorsicht zu genießen, dennoch sind sie ein wichtiger Gegenpol, der zur Kenntnis genommen werden sollte. Schließlich werden es wohl kaum die Offiziellen sein, die ihr Fehlverhalten in die Öffentlichkeit tragen – dazu braucht es ein Forum für die Betroffenen.
Wie bereits seit Jahren wird das abc auch in diesem Jahr zu Silvester eine Demonstration zum Gefängnis Moabit veranstalten, um gegen das Einsperren als Lösung sozialer Konflikte zu protestieren und um den Gefangenen zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind. Los geht es am 31. Dezember um 22.45 Uhr am U-Bahnhof Turmstraße. Als Warm-up dazu wird es heute Abend in der Rigaer 94 ein Konzert des “Collectif Mary Read” und des “Bühnenwunders” Jenz Steiner – des King von Prenzlauer Berg – geben.
SAM T. FARD
Weitere Informatonen:
www.abc-berlin.net
oder
www.bewegung.taz.de