“so was habe ich in meinem ganzen leben noch nicht gesehen.” – ein interview mit einer brasilianischen anarchistin über das land und die proteste im juni 2013
übernommen von nigra.noblogs.org
enila dor lebt in porto alegre in brasilien. sie ist seit vielen jahren politisch aktiv und organisiert sich zu verschiedenen themen wie feminismus und anarchismus in gruppen und netzwerken und in der anarchopunkszene. die proteste und den widerstand in porto alegre hat sie aus nächster nähe miterlebt. das interview wurde von mitte juli bis mitte august 2013 auf englisch per email geführt.
nigra: hallo enila. erstmal danke, dass du dir die zeit nimmst, meine fragen zu beantworten.
enila: ich danke dir. es ist eine gute gelegenheit, darüber zu berichten, was hier los ist. zeit ist auch eine frage der prioritäten.
wenn ich an brasilien denke, dann kommen mir begriffe wie amazonas, regenwald, yanomami, rio de janero, zuckerhut, karneval und favelas in den sinn. strenge ich mein hirn stärker an, tauchen da auch chico mendez, die landlosenbewegung, roberto freire und ein paar coole anarchopunkbands auf. wie würdest du brasilien beschreiben?
das ist wirklich eine schwere frage. brasilien ist all das, was dir in den sinn kam, eine mischung aus der realität und dem, was sich gut an nichtbrasilianer_innen verkaufen lässt. brasilien ist ein riesiges land mit verschiedenen kulturen, so dass wir sagen können, dass hier viele länder in einem existieren. was in all diesen gleich ist, sind die gesetze: alle bundesstaaten haben die gleichen mehrheitsrechte. die großen medien, die sieben reichen familien gehören, formen und kontrollieren die öffentliche meinung (ähnlich wie in anderen ländern). es gibt viele gesellschaftsschichten und sehr große unterschiede zwischen ihnen. die reichtümer sind im besitz einer sehr kleinen minderheit. die natur ist großartig, aber in den großstädten ist sie weit weg und der größte teil des wassers, der flüsse und meere rund um die städte ist sehr verschmutzt. gentrifikation ist groß im kommen, vor allen dingen wegen der fußballmeisterschaft der männer im kommenden jahr. es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass brasilien eine sehr hohe rate von gewalt gegen frauen hat. sie werden diskriminiert: frauen bekommen weniger gehalt für die gleichen jobs. viele mädchen und frauen prostituieren sich und während der weltmeisterschaft wird der sex-tourismus noch mal zunehmen.
brasilien ist auch ein rassistisches land. wir leben in einer art apartheid: grundsätzlich leben schwarze menschen in ärmlichen gegenden. sie werden öfter von der polizei ins visier genommen und erfahren mehr polizeibrutalität. sie haben weniger zugang zu schulen und jobs. schwarze frauen leiden darunter doppelt.
indigene menschen werden immer noch von ihrem land vertrieben und umgebracht.
es ist eine pessimistische darstellung, aber ich sehe keinen grund darin, hervorzuheben, dass es hier wunderschöne plätze in der natur gibt, die menschen herzlich sind, usw. usf. jede_r weiß das.
wie steht es um die anarchistische bewegung in brasilien? gibt es gruppen, netzwerke oder föderationen?
es gab eine starke anarchistische bewegung am anfang des 20. jahrhunderts, beeinflusst von europäischen einwanderer_innen. es gab einige anarchistische zeitungen, anarchist_innen waren an zwei generalstreiks beteiligt und es gab kommuneexperimente. all das verschwand, als die repression und verfolgung während der diktaturen in den 1930er, 1950er und 1960er jahren zunahm. in den letzten 20 jahren gewann der anarchismus an stärke und sein wiedererwachen ist teilweise auf die punkbewegung zurückzuführen. dort war er thema in der mitte der 1980er jahre. seit da entstehen föderationen, anarchopunkbands, netzwerke, verlage und buchmessen. es gibt auch organisierte anarchafeministische gruppen. und obwohl ich nicht an einen anarchismus ohne feminismus glaube, hebe ich den anarchafeminismus hervor, da er für viele anarchist_innen kein hauptthema ist. und ich sage das, während ich mir vorstelle, wie das einige leute lesen und sagen: “das ist überflüssig. es ist nicht notwendig, anarchafeminismus so zu betonen.” ich sage aber, dass es sehr wohl notwendig ist, den anarchafeminismus auch unter anarchist_innen immer zum thema zu machen, weil es leider auch in der libertären szene viel machismus und gewalt gibt.
bist du organisiert und wenn ja in welcher form?
ja, ich versuche organisiert zu sein, haha. nein, im ernst, ich bin in anarchistischen kollektiven organisiert, ich habe eine kleine bezugsgruppe und bin teil eines anarchafeministischen kollektives. ich arbeite in einem feministischen netzwerk und bin teil einer selbstverteidigungsgruppe für frauen. meine kleine bezugsgruppe und mein feministisches kollektiv organisieren veranstaltungen und aktionen mit anderen anarchistischen gruppen oder libertären, sozialen bewegungen. und im nächsten november organisieren wir die vierte anarchistische buchmesse von porto alegre.
die proteste begannen am 14.06.2013. ich war von der intensität und größe völlig überrascht. als ich dann aber nachgeforscht habe, lernte ich schnell, dass sie nicht in einem vakuum entstanden, sondern eine vorgschichte haben.
hier in porto alegre begannen die proteste im februar dieses jahres. jedes jahr im februar steigen die preise der bustickets und über viele jahre gab es schon proteste in großen städten. aber klar, dieses jahr waren die intensität und quantität viel größer und es fanden auch in vielen kleinstädten proteste statt.
gab es anarchistische beteiligung an den protesten und wenn ja, konnte diese sich inhaltlich einbringen?
sie wurden hauptsächlich von anarchist_innen und einigen linken parteien initiert. überraschenderweise kamen anarchistische ideen in die öffentlichkeit. die leute begannen über anarchismus zu reden. die medien und die regierung konnten nicht leugnen, dass anarchist_innen beteiligt waren. es gab einige ermittlungen gegen anarchist_innen und z.b. die anarchistische föderation (fag) hier wurde von der polizei ohne durchsuchungsbefehl gerazzt.
der höhepunkt der proteste scheint überschritten zu sein, der cup ist zu ende. wie sieht es aktuell aus?
es ist noch nicht vorbei. die proteste gehen an vielen orten weiter, hauptsächlich in rio de janeiro, aber mit weniger intensität. es ist wichtig zu sagen, dass die leute nun (in einem positiven sinn) an die proteste gewöhnt sind. das macht es leicht möglich, wenn nicht sogar unumgänglich, dass neue proteste aufkommen.
in irgendeinem interview habe ich gelesen, dass es kein zufall war, dass die proteste genau mit dem cup zusammenfielen: heute schaut die welt auf uns! dort wurde auch prophezeit, dass rechtzeitig zum world cup eine neue phase des protests anstehen wird. wie siehst du das?
ich denke, dass die proteste größer wurden, als der cup begann. die zwangsräumungen, die abschottung der innenstadt, die krankenhausschließungen und die armee in den straßen machten eine antwort dringlicher. wenn die fußballweltmeisterschaft der männer beginnt, das glaube ich auch, werden dir proteste stark wiederkommen.
wie sahen die proteste in deiner heimatstadt porto alegre aus?
die proteste waren sehr intensiv. es gab viel polizeigewalt und sehr viele riots. so was habe ich in meinem ganzen leben noch nicht gesehen. eigentlich begannen die proteste hier in porto alegre radikaler zu werden, dann in sao paulo und dann an anderen orten. es war unglaublich, zu sehen, wie jeden tag proteste stattfanden und wie ein protest in einer stadt die menschen in der anderen motivierten und umgekehrt. es war wie eine verbindung und auch ein netzwerk. der alltag veränderte sich sehr stark. banken und läden schlossen früher, die leute beendeten ihre schichten auch früher. nach den kämpfen der ersten nacht verrammelten die banken und läden ihre fenster und viele mussten das wieder und wieder tun. die polizei war sehr gewalttätig und setzte eine menge tränengas ein. das tränengas ging aus und der staat musste mehr bestellen. es wurde auch abgelaufenes gas eingesetzt. anderes gas war dafür bestimmt, in kriegsgebiete geschickt zu werden, erreichte diese länder aber nie, sondern wurde hier eingesetzt. es hatte eine andere zusammensetzung und darf hier in brasilien nicht eingesetzt werden (aber in einigen afrikanischen ländern…). einige menschen starben durch den einsatz von tränengas. es wurden auch gummigeschosse benutzt, pfefferspray, wasserwerfer und scharfe munition. es wurden menschen gefoltert und menschen verschwanden. nicht zu vergessen die menschen, die später tot aufgefunden wurden. frauen haben sexualiserte gewalt erfahren und wurden vergewaltigt. favelas (slums; d.ü.) wurden auch öfter überfallen und es gab dort massaker: im erwähnenswertesten fall in der favela da mare in rio de janeiro wurden zehn menschen erschossen. viele demonstrant_innen wurden von autofahrer_innen überfahren, da diese es nicht abwarten konnten, bis die demonstration vorübergezogen war. einige menschen starben. hier ist es wichtig zu erwähnen, dass brasilien eine starke autokultur hat und fahrer_innen, die jemanden verletzen oder töten, werden selten bestraft.
in europa erleben wir u.a. in frankreich und ungarn einen krassen rechtsruck. eine zeit lang wurde berichtet, dass rechte gruppen die proteste für sich instrumentalisieren würden und ihnen das auch gelänge. gibt es eine nennenswerte rechte bewegung in brasilien und konnte diese wirklich in den letzten wochen punkten?
ich denke, dass die rechte unterschiedliche tendenzen hat. nationalismus ist immer dabei, aber in verschiedenen ausprägungen. eine ist militaristisch, eher traditionell und konservativ, inspiriert von faschistischen und imperialistischen ideen. die andere ist nationalistisch in ihrer verehrung für brasilien. beide waren bei den protesten präsent. ich denke, dass die letztere erfolgreicher war. sie versuchte die proteste zu entpolitisieren und die menschen abzuschrecken.
ich bin immer wieder davon überrascht, dass bei solchen bewegungen, die jeweiligen nationalflaggen des antsprechenden landes zuhauf geschwenkt werden. so auch auf vielen fotos und in vielen videos aus brasilien. als anarchist sehe ich patriotische tendenzen immer mit sorgen. was würdest du an den protesten kritisieren?
die proteste begannen wegen der erhöhung der busticketpreise und auch wegen den anderen dingen bezogen auf den cup und die ausgaben der regierung für die nächste die fußballweltmeisterschaft. es war eine totale überraschung für die gesellschaft, dass sich so viele menschen beteiligten und mit engagement und stärke protestierten. so war es eine offene tür für die opportunist_innen, die meisten von ihnen aus der mittelschicht, engagiert gegen korruption, und rechte parteien und organisationen. die medien spielten eine wichtige rolle dabei, die proteste zu befrieden und die protestierenden zu verfolgen, die an den riots beteiligt waren. die medien verbrachten die ganze zeit damit, einen unterschied zwischen den “guten” und den “bösen” protestierenden zu konstruieren. sie begannen zu behaupten, dass die proteste sich nur gegen die korruption richten würden. sie versuchten so, die ursprünglichen themen unter den teppich zu kehren. nationalist_innen und moralisierende pazifist_innen kamen zu den protesten. brasilianische flaggen wurden geschwenkt und nationalismus wurde in die szenerie eingebracht. es tat weh zu beobachten, wie leute die polizeigewalt entschuldigten. es war abscheulich, friedensbewegte menschen zu beobachten, wie sie militante protestierende angriffen, die an den riots teilnahmen oder nur graffitis sprühten. die gewalt nahm zu, als neonazis auftauchten und anarchist_innen, punks, leute von mst (movimento dos trabalhadores sem terra; bewegung der landlosen arbeiter_innen) und menschen von linken parteien angriffen. es wurde sehr chaotisch und groß, so dass wir nicht wussten, in welche richtung sich die dinge entwickeln würden. wir hatten angst vor einem staatsstreich. die atmosphäre war seltsam gefährlich und schwer.
siehst du paralellen zum arabischen frühling oder der gezi-park-bewegung in der türkei? auch dort fing ja alles ganz „harmlos“ an und breitete sich dann wie ein feuer übers ganze land aus.
die gemeinsamkeiten, die ich sehe, sind, dass die menschen das vertrauen in die demokratie verloren haben und dass das internet geholfen hat die dinge leicht und wie einen virus zu verbreiten. in dieser zeit musst du nicht teil einer politischen bewegung sein, um an kämpfen teilzunehmen, sondern du folgst gruppen und blogs. das hat positive und negative seiten, mit denen wir klar kommen müssen.
du lebst in porto alegre. die millionenstadt im süden brasiliens wurde bei uns hauptsächlich dadurch bekannt, dass dort über jahre hinweg das weltsozialforum stattfand. zusätzlich wurde porto alegre hierzulande dafür gelobt, dass ein bis in die stadtteile reichendes system der mitbestimmung und selbstverwaltung eingerichtet wurde. z.b. über bauvorhaben und den gemeindehaushalt sollte so von möglichst vielen menschen mitentschieden werden. inwieweit spiegelt sich das in deiner lebensrealität wieder?
ich denke, dass diese selbstverwaltung nicht so funtioniert, wie es den anschein hat. die beweise dafür sind z.b. die zwangsräumungen, die wachsende anzahl von einkaufszentren, die immer größeren straßen und brücken, die die stadtteile durchschneiden. eigentlich ist “selbstverwaltung” nicht die richtige bezeichnung dafür, sondern “bevölkerungsberatung” und es bedeutet nicht, dass die von den menschen als dringlich betrachtete themen in die realität umgesetzt werden. es gibt das ganze nun schon seit mehr als 20 jahren und es gibt immer noch viele stadtviertel ohne abwasserentsorgung und viele gemeinswesen haben keine schulen und öffentliche verkehrsmittel, wie sie sie gerne hätten.
enila, ich danke dir und wünsche euch alles gute für eure kämpfe.
vielen dank. die fragen waren sehr interessant. ich hoffe, dass meine ausführungen den leuten bei euch etwas sagen werden.