Staatlich unterstützte Rechtsverweigerung – Sicherungsverwahrung nach den gesetzlichen Neuregelungen
Der Artikel erschien in der Analyse & Kritik #587 vom 15.10.2013. Von Claudia Krieg und Johannes Spohr
»Die einzige Frage, die den Verwahrten für den Bau der neuen Teilanstalt gestellt wurde, war, welches Gitter denn für das zu öffnende Fenster verwendet werden soll: Entweder das gewohnte alte Gitter oder das neue mit den elipsenförmigen Ausstanzungen. Die Verwahrten sprachen sich eigentlich unisono für das alte aus, aber es wurde, wie Sie es haben sehen können, doch so gemacht, wie es sich der Architekt ausgedacht hatte.« (Christian Templiner, SV-Häftling in der JVA Berlin-Tegel)
Etwa 500 Menschen befinden sich bundesweit im Vollzug der sogenannten Sicherungsverwahrung (SV). Sie befinden sich in regulärer Strafhaft, obwohl sie ihre Gefängnisstrafe bereits verbüßt haben. Dieser oft als »Strafe nach der Strafe« bezeichnete Zustand sollte laut neuer gesetzlicher Bestimmung bis zum 1. Juni 2013 abgeschwächt werden. Seit dem Stichtag sollten gesonderte Abteilungen und Gebäude zur Verfügung gestellt werden, mittels derer Sicherungsverwahrte in haftfernen Räumen untergebracht werden können, um so für eine deutliche Trennung zwischen Strafhaft und SV zu sorgen.
Bereits im Dezember 2009 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Vollzug der SV in Deutschland kritisiert. Vor allem die Aufhebung der Begrenzung der SV auf zehn Jahre seit 1998 und die 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung verstießen gegen die Menschenrechte. Im Mai 2011 erklärte das Bundesverfassungsgericht nach einer erfolgreichen Klage Betroffener die gesetzlichen Regelungen zur SV für verfassungswidrig und verpflichtete den Gesetzgeber, bis zum 31. Mai 2013 für den Vollzug der SV neue Regelungen zu schaffen. Er solle ein »freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept« entwickeln. Der Vollzug müsse sich deutlich von der Strafhaft unterscheiden (»Abstandsgebot«) und so weit wie möglich »den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst« werden. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Anschluss an psychiatrische Unterbringung sei »nur unter engen Voraussetzungen« zulässig.
Die Unzulässigkeit der Sicherungsverwahrung in mehreren Fällen haben am 19. September 2013 der EGMR und der Bundesgerichtshof (BGH) erneut bestätigt: Vier Männern, die heute zwischen 57 und 67 Jahren alt sind, wurden Entschädigungszahlungen zwischen 49.000 und 73.000 Euro zugestanden. Zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung galt eine Obergrenze für die Sicherungsverwahrung von zehn Jahren, die 1998 von der damaligen schwarz-gelben Regierung auch für bereits Verurteilte aufgehoben wurde. Daraufhin mussten die vier Männer nach der Verbüßung ihrer Strafe deutlich länger als zehn Jahre – nämlich 18 bis 22 Jahre – in der Sicherungsverwahrung bleiben. Das Land Baden-Württemberg, in dem die Männer inhaftiert waren, muss die Zahlungen übernehmen. Das Urteil ist bundesweit auf andere, ähnliche Fälle übertragbar.
JVA Berlin-Tegel: Keine Umsetzung in Sicht
Der Berliner Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) verkündete am 31. Mai 2013 zufrieden: »Wir erfüllen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts pünktlich.« Er meinte damit den Neubau in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel, in dem zukünftig 60 Sicherungsverwahrte in sogenannten Zimmern »freiheitsorientiert« verwahrt werden sollen. Von einer Trennung der unterschiedlichen Formen des Einsperrens ist in der JVA aber bis Ende September 2013 noch nichts zu erkennen.
Ein Umzug in die 15 Millionen teure neue Teilanstalt ist nicht vor Frühling 2014 zu erwarten. Derzeit ruhen die Bauarbeiten aufgrund von Bombenfunden aus dem Zweiten Weltkrieg. Andere in Aussicht gestellte Neuerungen für die Sicherungsverwahrten in Berlin: viermalige »Ausführung« im Jahr in Begleitung von BeamtInnen, Anspruch auf zehn statt einer Besuchsstunde im Monat und – abgesehen von dem Nachtverschluss zwischen 21.30 und 6 Uhr – »Bewegungsfreiheit« im Gebäude. Außerdem gäbe es einen Anspruch auf Selbstverpflegung – die Verwahrten erhielten 75 Prozent mehr Lohn als Strafgefangene, also maximal 300 Euro – und der Schlüssel der psychologischen Betreuung werde erhöht.
Was derzeit tatsächlich in Tegel zu sehen ist, lässt die Betroffenen verständnislos den Kopf schütteln. Aber auch Ärger darüber, »verarscht« worden zu sein, macht sich Luft: »Was früher Zelle hieß, heißt jetzt Zimmer. Aber vor dem Fenster sind die selben Gitter, die selben Leute schließen die Tür morgens auf und abends zu. Draußen stehen die selben Mauern und Wachtürme«, so Christian Templiner, Sprecher der Sicherungsverwahrten in der JVA Tegel, während eines Pressebesuches. Für die insgesamt 36 Sicherungsverwahrten hat man im Trakt der Anstalt 5 eine »Übergangslösung« improvisiert: Zwei nicht verbundene Hafträume à 8,53 Quadratmeter stehen ihnen jetzt zur Verfügung. »Höchstens 25 Prozent der Häftlinge hier nutzen den zweiten Raum. Das liegt vor allem daran, dass er nach dem Einschluss nicht begehbar ist. Was soll ich mit einem Raum, in den ich nicht immer gehen kann?«
Die Umsetzung gerichtlicher Forderungen lässt in Tegel so offensichtlich auf sich warten, dass der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer von »einer ungesetzlichen und verfassungswidrigen Situation« spricht. Der Strafvollzugsrechtler führt seit Anfang Juni eine Musterklage beim Berliner Landgericht gegen die unzulässige Unterbringung eines Mandanten in der SV. Dessen Strafe wegen Körperverletzungsdelikten ist verbüßt. Obwohl als Eilantrag gestellt, der in der Regel binnen 48 Stunden bearbeitet werden muss, schiebt das Gericht die Klage bislang auf die lange Bank. »Derweil sitzt jemand unzulässig in Haft – das ist gezielte Verschleppung«, so der Anwalt Ende September. Er versuche zeitlichen Druck aufzubauen, rechne mit einer baldigen Entscheidung. Seine Position ist klar: »Die Bedingungen seit dem 1. Juni 2013 stimmen nicht mit den Bedingungen überein, die von Karlsruhe gestellt wurden, deshalb müssten die Menschen umgehend entlassen werden.« Auch von den angeblich verbesserten sozialtherapeutischen Angeboten ist Scharmer nicht überzeugt: Laut Aussage seines Mandanten gibt es eine neue Sozialarbeiterin und neuerdings eine Psychologin, die kein sichtbares Behandlungskonzept habe.
»Sonderopfer« für die Gesellschaft
Das Bundesverfassungsgericht sprach in seinem Urteil im Mai 2011 davon, dass Sicherungsverwahrte der Gesellschaft ein »Sonderopfer« erbringen würden.1 Das klingt, als läge es auch in deren eigenem Interesse, ihr Wegsperren »sinnvoll« zu organisieren. Die Realität in den Anstalten gibt zu einer solchen Vorstellung allerdings sehr wenig Anlass.
Wie auch der sonstige Strafvollzug ist die Sicherungsverwahrung, beginnend mit der allmorgendlichen »Lebendkontrolle«, ein Verwaltungsakt, der mit einem »den allgemeinen Lebensbedingungen angepassten Leben« kaum zu vereinbaren ist. Die für die Sicherungsverwahrten angepriesenen Lockerungen machen vor allem deutlich, welche Entbehrungen im »Normalvollzug« als »normal« und wie viele Grundrechte für Inhaftierte nicht gelten. Christian Templiner berichtet von einem 200-seitigen Pamphlet, das im Vorfeld des Neubauplans an die Verwahrten verschickt worden sei – bestehend aus etwa 85 Prozent Strafparagraphen. Deutlich sei darin geworden, dass das Prinzip von Einschluss und Sanktion weiter aufrechterhalten würde. Bereits im Dezember letzten Jahres kritisierte die Gefangenenzeitung Der Lichtblick die geplante Unterbringung der Sicherungsverwahrten und warnte davor, es könne zu Hungerstreik und Revolte kommen.
Die zahlreichen Verlegungen haben nicht nur Auswirkungen auf die Sicherungsverwahrten, sondern auf alle in Tegel Inhaftierten. Auch der Gefangene Dieter Wurm, selbst bedroht von Sicherungsverwahrung, hat inzwischen eine Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgericht gegen die »Missachtung« des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes eingereicht. Seiner Meinung nach wird vor allem das Abstandsgebot nicht eingehalten: »Die in Berlin zur Zeit in der JVA Tegel Teilanstalt 5 untergebrachten Sicherungsverwahrten werden gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes vom Dezember 2011 verfassungswidrig, weil im Strafvollzug, untergebracht.« In Kenntnis der Gesetzeslagen hätten verschiedene Gefangene aus der SV der Verlegung auf den Doppelhaftraum nicht zugestimmt. Bei einer konkreten Verweigerungshandlung dieser »Verlegung« sei unmittelbarer Zwang – also körperliche Gewalt – und disziplinarische Bestrafung von Einkaufssperre bis Unterbringung im »Bunker« angedroht worden. Auch der Neubau, so sagt er, sei »voll in die Knaststrukturen eingebunden.« Selbst die Sprecherin von Justizsenator Heilmann, Lisa Jani, bestätigt auf Anfrage den Unmut: »Nicht immer waren die Betroffenen damit vollumfänglich einverstanden. Diese Maßnahmen waren jedoch aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unerlässlich.«
Christian Templiner beschreibt die negativen Auswirkungen der momentanen Situation: »Es ist enorm schwierig, sich irgendwelche Aussichten auch nur vorzustellen, schließlich wird die Fertigstellung wieder und wieder verschoben. Außerdem tragen die Verwahrten mehr und mehr die Befürchtung, dass es viel mehr eine Art Sanatorium wird anstatt ein Gebäude, in dem die Verhältnismäßigkeit untermauert wird.« Der Inhaftierte Hauke Burmeister, Mitglied der Insassenvertretung in der Teilanstalt 5 sowie der Gesamtinsassenvertretung der JVA Tegel, hat bereits diverse Haftanstalten erlebt. Er bezeichnet die allgemeine Situation in Tegel in der letzten Zeit als Chaos: »Die Teilanstalt 5 lässt sich als ›führerloses, im Ozean treibendes Schiff‹ bezeichnen. Niemand ist hier an der Umsetzung irgendeiner Zielvorgabe interessiert.« Es gäbe keine Leistungskontrolle im Berliner Strafvollzug. Er drängt vor allem auf ein unabhängiges Kontrollgremium, das sich aus anstaltsunabhängigen Personen zusammensetzen müsse. JournalistInnen werde die Anstalt ohnehin nur so vorgeführt, wie sie gesehen werden soll.
Gehandelt wird immer erst dann, wenn es nicht mehr anders geht und Gerichte auf unhaltbaren Zuständen basierende, nicht vermeidbare Urteile fällen – und oft auch dies nur im Rahmen des Unvermeidlichen. Das knastkritische »projekt bauluecken« schreibt dazu, dass die Kritik an aktuellen Tendenzen nicht nur dazu dienen dürfe, »Fehler« und »Skandale« aufzudecken: »Das Problem ist das System des Strafens und die gesellschaftlichen Zustände, die dieses beinhalten.«
Claudia Krieg und Johannes Spohr leben und schreiben in Berlin, unter anderem gemeinsam für den Webblog preposition.de.
Einer der bekanntesten politischen Häftlinge und SVler, Thomas Meyer-Falk, ist in der JVA Freiburg inhaftiert. Er bloggt unter freedomforthomas.wordpress.com.
- Bundesverfassungsgericht: Regelungen zur Sicherungsverwahrung verfassungswidrig. Pressemitteilung Nr. 31/2011 vom 4. Mai 2011. [↩]