Thomas Meyer-Falk: Aus der Altenpsychiatrie
Wer sich mit der Thematik „Freiheitsentziehung“ beschäftigt, sollte nicht nur auf die Situation in den Gefängnissen schauen, sondern darf all jene nicht vergessen, die in den Psychiatrien aller Herren Länder sitzen.
Auch in Deutschland verliert man recht zügig seine Freiheit, wenn man als psychisch krank gilt (vgl. beispielsweise meinen Beitrag).
Im Folgenden möchte ich über die Vorgehensweise der (bayrischen) Justiz gegen Frau S. aus Sonthofen berichten: Geboren 1930, arbeitete sie ihr ganzes Leben. Seit Jahrzehnten bewohnt sie ihr eigenes kleines Häuschen, lange alleine, wenn ihr Ehemann auf Hoher See war, mit ihm zusammen, wenn er Urlaub hatte. Und seit einer Trennung von ihm wieder alleine. Vielfältig und vielsprachig interessiert lebte sie in Sonthofen, der südlichsten Stadt Deutschlands.
Durch Schicksalsschläge geriet im Verlaufe der Jahre etwas aus den Fugen und sie wurde kurzfristig in die Gerontopsychiatrie verbracht und medikamentös behandelt. Nach der Entlassung 2007 aus der Psychiatrie waren ihr nur wenige Wochen in Freiheit vergönnt, bevor man sie von drei Polizisten erneut ins Bezirkskrankenhaus eskortieren ließ.
Der dies billigende Beschluss des Vormundschaftsgerichts Sonthofen umfasst genau drei Seiten, davon eine Seite „Rechtsmittelbelehrung“ und eine Seite Präliminarien. Sprich, die die Freiheitsentziehung begründenden Ausführungen umfassen eine einzige Seite.
Und diese „Ausführungen“ bestehen auch noch aus bloßen Textbausteinen, dem zitieren von Paragrafen. Die einzige individuelle Bemerkung der Richterin Gramatte-Dresse besteht in dem Hinweis, Frau S. leide an „einer bipolaren affektiven Störung“ und sei „deshalb“ eine Gefahr für sich selbst.
Intellektuell wie juristisch stellt eine solche Begründung, man kann es nicht anders sagen, eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes dar. Schon der gedankliche Schluss, weil Frau S. an dieser Störung leide, stelle sie für sich selbst eine Gefahr dar, geht fehl.
Bipolare Störungen (auch Manisch-Depressiv genannt) sind bei ca. 1 % der Bevölkerung zu beobachten (vgl. Fiedler, „Persönlichkeitsstörungen“), 3. Auflage, S. 331). Will man nun 800.000 Menschen wegschließen?
Es wird nicht überraschen, zu erfahren, dass eine Begutachtung vor Anordnung der Einweisung nicht erfolgte; selbst die obligatorische Anhörung vor Gericht wurde unterlassen – schließlich bestand, so die Richterin, „Eilbedürftigkeit“. Weshalb man Frau S. zwar in eine andere Stadt in die Psychiatrie eskortieren konnte, nicht aber (zuvor) zur Richterin, deren Gerichtsgebäude wenige Minuten entfernt vom Haus von Frau S. zu finden ist, wird nicht erläutert.
Nachdem sich Frau S. weigerte, die ärztlicherseits angeordneten Psychopharmaka einzunehmen, wurde sie ans Bett geschnallt, so lange, bis sie „freiwillig“ ihre Pillen schluckte. Sie berichtete mir in bewegenden Briefen, dass sie vor Schmerzen geschrieen habe, während sie ans Bett gefesselt war. Ihre Beingelenke und Handgelenke seien noch Tage später geschwollen gewesen. Als Folge könne sie mittlerweile nur noch im Gehwagen laufen.
Der Demütigung nicht genug, sie wurde faktisch, wie der Volksmund so sagt, „entmündigt“. Sie, die seit Jahrzehnten Atheistin ist, bekam nun eine gesetzliche Betreuerin von der evangelischen Diakonie bestellt. Diese beeilte sich an „Frau Ilse S.“ (nur nebenbei: Sie heißt Inge S., aber selbst diese Sorgfalt überforderte offenbar die Betreuerin) zu schreiben, sie – Frau S. – dürfe sich von ihrem eigenen Geld weder Kleidung, noch Hygieneartikel kaufen, denn sie sei „nicht geschäftsfähig“ und werde schließlich in der Psychiatrie rundum versorgt. Sollte einmal dringender Bedarf bestehen, den „das Pflegepersonal (…) überprüfen und mir rückmelden“ werde, könne vielleicht anders entschieden werden.
Da hat also eine Frau über 45 Jahre gearbeitet und darf sich nun von ihrer Rente nicht einmal mehr etwas kaufen.
Sie ist der Gnade des Pflegepersonals und einer Betreuerin ausgeliefert.
Da sie geistig sehr rege ist, leidet Frau S. besonders unter dem Umstand, dass auf der Station viele demente PatientInnen sind. Eine Patientin habe sie auch schon in ihrem eigenen Bett vorgefunden und als Frau S. sie bat zu gehen, habe diese auf Frau S. eingeschlagen.
Grippe und Noro-Virus suchten die Station in den letzten Wochen heim, so dass „Quarantäne“ angesagt war.
Zwischenzeitlich befasst sich auch der Landtag in München mit den möglicherweise vorhandenen Missständen auf der Gerontopsychiatrischen Station des BKH Kaufbeuren (die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren hat übrigens eine traurige Vergangenheit im 3. Reich).
Für die zwangsweise Unterbringung stellt das BKH der Krankenkasse von Frau S. täglich 229,01 Euro, im Monat mithin 7.099,31 Euro in Rechnung.
Ihren letzten Brief beendete Frau S. mit dem Satz: „Ich bin zwar krumm und bucklig, aber mein Charakter ist aufrecht“.
Vergessen wir nicht jene, die in den Psychiatrien sitzen.
Thomas Meyer-Falk
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