Thomas Meyer-Falk: Sicherungsverwahrung verboten?
Am 04. Mai 2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die zur Zeit geltenden Bestimmungen über die Sicherungsverwahrung (zur SV siehe auch) allesamt gegen die Verfassung verstoßen. Deshalb sollen im Folgenden die Entscheidungsgründe kurz dargestellt und eine erste Einschätzung abgegeben werden.
1.) Das Urteil vom 04. Mai 2011
a.) Vorgeschichte
Nachdem die Zahl der in SV untergebrachten Personen bis Mitte der 90er soweit zurückging (auf knapp 180 Männer), dass sogar an eine mögliche Abschaffung dieser Maßregel gedacht wurde, zogen in Folge hektischer gesetzgeberischer Aktivitäten nach spektakulären Sexualmorden, insbesondere zum Nachteil von Kindern, die Verwahrtenzahlen erheblich an auf mittlerweile über 500 Personen (zu fast 100% Männer).
Sicherungsverwahrung, dies als kleiner Exkurs, ermöglicht der Justiz seit 1933 (denn die Nationalsozialisten fügten die SV in das damalige Reichsstrafgesetzbuch ein) einen Menschen auch über die Dauer der eigentlich verhängten Haftstrafe hinaus im Gefängnis zu behalten; zumindest solange, wie er/sie „gefährlich“ für die Allgemeinheit ist. Bis 1998 durfte die erstmalige Anordnung der SV maximal 10 Jahre vollzogen werden, seit einer Gesetzesänderung noch unter CDU/FDP (Kohl-Regierung) darf jedoch eine Verwahrung auch bis zum Tode erfolgen.
Seit Gesetzesänderungen von 2002/2004 kann darüber hinaus die SV auch nachträglich, also kurz vor dem regulären Haftende angeordnet werden.
Hiergegen klagten erfolgreich einige Verwahrte bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekamen von dort bescheinigt, dass einerseits die Haftbedingungen in der SV desolat seien und somit die SV im Sinne der Menschenrechtskonvention eine Strafe darstelle und andererseits deshalb – weil sie eine Strafe darstelle – eine rückwirkende Verlängerung, bzw. Anordnung menschenrechtswidrig sei.
Da sich allerdings in Deutschland nur wenige Gerichte bereit fanden, die Urteile des EGMR auch auf ähnlich gelagerte Fälle anzuwenden und die Betroffenen aus der Haft zu entlassen (wie beispielsweise Herrn Ralf Schüler, einen Einbrecher), landeten mehrere Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
b.) Entscheidungsgründe
In dem 178 Absätze umfassenden Urteil verwirft das Gericht einerseits alle wesentlichen Regelungen der Sicherungsverwahrung, da diese angesichts des real praktizierten Vollzugsalltages grundgesetzwidrig seien (aa.), bzw. sofern eine rückwirkende Verlängerung/Verhängung erfolgte, diese gegen den Vertrauensschutz verstoße (bb.), billigt aber dem Staat eine lange Übergangsfrist zu, innerhalb derer die bisherigen Regelungen fortgelten, wenn auch unter Einschränkungen (cc.).
aa.) Vollzugsalltag
Da der Vollzugsalltag weitgehend dem des Strafvollzuges ähnele und er nicht mal ansatzweise auf die Wiedererlangung der Freiheit ausgerichtet sei, so das Gericht, verstoße die Sicherungsverwahrung heute gegen das Grundrecht auf Freiheit der Person.
In den Absätzen 111 ff. macht das BVerfG dann dem Gesetzgeber zahlreiche Vorgaben hinsichtlich der einzuführenden Mindeststandards: die SV, ihr Antritt oder Vollzug müssten die „ultima-ratio“ sein, das heißt, schon der vorangeschaltete Strafvollzug müsse zwingend auf eine Vermeidung der SV ausgerichtet sein, namentlich durch ein intensives Therapieangebot und entsprechende Vollzugslockerungen. So der Antritt der SV dann erfolge, sei zwingend eine umfassende Diagnostik durchzuführen, Therapiemaßnahmen und ein multidisziplinäres Team von Fachkräften haben intensiv auf einen frühestmöglichen Entlassungszeitpunkt hinzuwirken. Die Betroffenen seien auch zu „motivieren“, und zwar durch ein „Anreizsystem (…) das aktive Mitarbeit mit besonderen Vergünstigungen oder Freiheiten honoriert oder auch solche entzieht, um Motivation und Mitarbeit zu erreichen“.
Ergänzt werden diese Vorgaben des Gerichts durch ein Trennungsgebot (Strafhaft und SV sind strikt zu trennen, wobei jedoch die SV-Einrichtungen sich durchaus auf dem Gelände von Gefängnissen befinden dürften) und insbesondere ein „Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot“, wonach jedem Verwahrten von Anfang an ein „Beistand“ beizuordnen sei, der ihn „bei der Wahrnehmung seiner Rechte und Interessen unterstützt“.
Vollzugslockerungen, so kann das Gericht verstanden werden, seien im Regelfall zu gewähren und nicht – wie heute – nur im Ausnahmefall.
Die Notwendigkeit der Fortdauer der Verwahrung sei jährlich (und nicht wie jetzt nur alle zwei Jahre) gerichtlich zu prüfen. Ferner sei ein umfassendes Netzwerk zu schaffen, welches die Verwahrten nach einer Freilassung aufnehmen könne.
Bislang fehle es jedoch an diesen verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards und somit sei das gesamte Institut der Sicherungsverwahrung verfassungswidrig.
Diese Ausführungen betreffen folglich alle Sicherungsverwahrten, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Verurteilung. Für den Spezialfall der rückwirkenden Verlängerung/Anordnung der SV macht das Gericht weitere Vorgaben.
bb.) rückwirkende Verlängerung/Anordnung der SV
Weiterhin beharrt das BVerfG auf seiner schon 2004 vertretenen Ansicht, die SV stelle keine Strafe dar, und positioniert sich hier eindeutig gegen die Rechtssprechung des EGMR. Allerdings gewichtet heute – im Gegensatz zu früher – der 2. Senat den Vertrauensschutz höher und berücksichtigt auf dieser Ebene die Urteile des EGMR von 2009-2011.
Da die Menschenrechtskonvention die Verwahrung „psychisch kranker“ Menschen (Art. 5 Abs. 1 Buchstabe 3 EMRK) durchaus erlaubt, müssen nun bei den sogenannten „Altfällen“ (also jenen, die vor der Reform von 1998 zu SV verurteilt wurden oder bei denen die SV nachträglich angeordnet wurde) umfangreiche Begutachtungen bis spätestens 31.12.2011 erfolgen. Eine weitere Verwahrung ist demnach nur zulässig, „wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten“ drohe und der Untergebrachte zugleich an einer „psychischen Störung“ leide. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, hat bis zum 31.12.2011 die Freilassung zu erfolgen.
Um es nochmal zu betonen, diese besonders hohe Hürde für eine weitere Sicherungsverwahrung betrifft ausschließlich die erwähnten „Altfälle“, deren Zahl je nach Schätzung 70-100 der über 500 Verwahrten umfasst.
cc.) lange Übergangsfrist
Das Gericht weigert sich, die Verwahrten sofort aus der Haft zu entlassen, da dies (Randnummer 168 des Urteils) „zu einem Chaos führen würde“ und ein „rechtliches Vakuum entstünde“. Bis 31. Mai 2013 bekommen der Bund und die 16 Länder Zeit, eine den Grundsätzen des Urteils gerecht werdende gesetzliche Regelung zu schaffen. Wobei das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, dass die Gesetze den Anstalten und Gerichten künftig eindeutige Vorgaben zu machen hätten und ihnen keine allzu großen Spielräume belassen dürften.
Erwähnenswert ist noch die Folge für den aktuellen Vollzugsalltag der Sicherungsverwahrten. In einem Nebensatz (Randnummer 172) verweist das Gericht darauf, dass wegen des aktuell verfassungswidrigen Zustandes den Betroffenen ausschließlich jene Beschränkungen auferlegt werden dürften, „die unerlässlich sind, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten“.
2.) erste Einschätzung des Urteils
Auf den ersten Blick mag es einem Paukenschlag gleichkommen, wenn das höchste deutsche Gericht die Sicherungsverwahrung insgesamt für verfassungswidrig erklärt. Jedoch begibt es sich dann durch seine Weigerung, die Betroffenen sofort freizulassen, in Konflikt mit Artikel 104 Abs. 1 GG, wonach nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes die Freiheit der Person beschränkt werden darf. Hier setzt das Gericht seine aus Sicht der Verwahrten willkürliche Rechtsprechung von 2004 fort, als es auch schon Gesetze zur Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig klassifizierte, ohne aber die Betroffenen freizulassen.
Unabhängig davon führt das Urteil, auch bedingt durch missverständliche Medienberichte, dazu, dass nicht nur Menschen in Freiheit, sondern gerade auch in Haft nun der Ansicht sind, die Sicherungsverwahrung sei abgeschafft oder werde zumindest durch einen hotelartigen Vollzugsalltag ersetzt. Nichts davon trifft zu; auch das BVerfG hält fest an dem Gedanken von 1933, Menschen trotz Verbüßung ihrer Haft, ggf. auch bis zu deren Tod weiterhin zu verwahren – wenn auch (zugegebenermaßen) unter komfortableren Bedingungen als jetzt.
Wie allerdings mit der Menschenwürde zu vereinbaren sein soll, dass die Anstalten im Rahmen des „Motivationsgebots“ (Randnr. 114) Freiheiten und Vergünstigungen ausdrücklich entziehen dürfen, wenn Verwahrte nicht mitspielen wollen, so wie es das Behandlungsteam wünscht, erscheint schon jetzt fraglich.
Nicht weniger bedenklich sind auch die Ausführungen zur „psychischen Störung“, die gegeben sein muss, um „Altfälle“ auch weiterhin verwahren zu können (Randnr. 151 ff), und sich dann ganze Absätze dem (vergeblichen) Versuch widmen, aus delinquentem Verhalten eine „psychische Störung“ abzuleiten. Das dahinter stehende Menschenbild verdient Kritik, denn hier werden Menschen zu Objekten staatlicher Definitionsversuche von Krankheiten. „Du bist KRANK – deshalb bleibst du hinter Gittern“, das ist die kurze, aber prägnante Schlussfolgerung.
Es bleibt nun erstmal nur abzuwarten, wie sich bis 2013 die Rechtslage entwickeln wird. Aber spätestens wenn der erste „Altfall“ sich erneut bis zum EGMR durchgeklagt hat, wird neuer Ärger ins Haus stehen.
Thomas Meyer-Falk
c/o JVA – Z. 3113
Schönbornstr. 32
D-76646 Bruchsal
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