Wer ist Marco Camenisch?
Marco Camenisch wird am 21. Januar 1952 in der Schweiz, in Schiers, einem Dorf in den Rhätischen Alpen im Kanton Graubünden, geboren. Er begann sein politisches Engagement mit der Unterstützung kämpfender Gefangener und ab 1978 schloss er sich dem Kampf gegen Atomkraftwerke an. Anfangs 1980 wird Marco wegen zwei Sprengstoffanschlägen verhaftet: gegen einen Masten einer Hochspannungsleitung der Elektrokonzerns NOK (einer der Konzerne, die damals in der Schweiz Atomkraftwerke betrieben) und gegen Transformatoren und den Richtstrahlmasten eines Elektro-Unterwerkes in Graubünden.
Das relativ harte Urteil von 10 Jahren war einerseits sicher auch Ausdruck seines tiefen Verständnisses von dem, was auf dem Spiele steht: die von der Energieindustrie selbst getätigte ökologische Vernichtung als Teil der Zerstörungskraft des Herrschaftssystems allgemein, das ebenfalls zu den erklärten Zielen seines Kampfes gehörte. Der damalige „Normaltarif“ in der Schweiz wäre um die 4-6 Jahre gewesen und sogar die reaktionäre Presse war über das Strafmass erstaunt, das damals ungefähr dem für Tötung entsprach. Das relativ harte Urteil ist aber auch und vor allem als repressive Angleichung zum europäischen und allgemein internationalen Kontext mit starken revolutionären Guerillabewegungen (Italien, Deutschland, usw.) und der entsprechenden repressiven Verschärfungen der bürgerlichen Repression zu sehen.
Die Atomenergiepolitik in der Schweiz übernahm die Organisationsform des US-Amerikanischen Manhattanprojekts und bereits in den ersten Tagen nach Nagasaki und Hiroshima wurde Atomenergie hierzulande zum breit diskutierten Thema. Es wurde die Propaganda des dual use (militärisch-zivil) eingeläutet und „ein goldenes Zeitalter, eine glorreiche Zeit menschlichen Fortschritts und Wohlstandes im Zeichen der Atomenergie“ verkündet. Ziel war aber vorerst die „Schaffung einer schweizerischen Atombombe“ wofür der Bund ein Rahmenkredit in nie dagewesener Höhe für ein Forschungsprojekt von 18 Millionen Franken beschloss, mit der üblichen Verflechtung von Privatindustrien und staatlichen Institutionen (Hochschulen), die wie ebenfalls, wie üblich, eindeutig im Interesse der Wirtschaft funktionierte. BBC, Sulzer und Escher-Wyss (Maschinenbauindustrie) gründeten 1946 die Studienkommission Kernenergie und die Arbeitsgemeinschaft Kernreaktor, wo später auch Motorcolumbus und Elektrowatt einstiegen. 1953 hatten sie ein Reaktorprojekt auf Papier und 1954 kaufte der Bund von den USA 5 Tonnen Plutonium, da die USA damals als einziges Land über Atomreaktoren verfügte. Im selben Jahr beschliessen die grössten Atommultis der Schweiz den Bau eines Versuchsatomkraftwerks. 1963 plant die NOK (Nordostschweizerische Kraftwerke, jetzt in der Axpo) mit BBC und Westinghouse mit einem amerikanischen Reaktor auf der Halbinsel Beznau des Flusses Aare ein eigenes Kraftwerk zu bauen, das 1968 fertiggestellt wurde. Danach wurden Beznau II (NOK), Mühleberg (BKW – Berner Kraftwerke) und in Gösgen, Döniken und Leibstadt ebenfalls Kernkraftwerke (KKW) gebaut. Mit der Beteiligung aller grossen Maschinenmultis der Schweiz wurde 1960 der Bau eines Schweizerischen AKW in Lucens geplant, wofür der Staat 50 Millionen Franken stellte, aber der Traum eines eigenen Reaktors explodierte im unterirdischen Kraftwerk mit der Explosion eines Brennstabes. Es war ein mit dem von Harrisburg vergleichbarer Unfall.
Seit Mitte der `60er Jahre gab es, wie auch in Deutschland, in der Bevölkerung breiten Widerstand gegen AKW (und industrielle Grossprojekte allgemein) mit vielen BürgerInnenbewegungen und militanten Sabotageaktionen, wie z. B. gezielte Anschläge gegen 9 Autos oder Ferienhäuser von Exponenten der Atomlobby. 1973 fand in Olten die erste Grossdemo gegen AKWs mit über tausend Menschen und einer Petition mit 16’000 Unterschriften statt. Im selben Jahr wird die Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK) gegründet. 1974 kam es zum Brandanschlag auf die Planbaracke des AKW Verbois und auf eine Transformatorenstation in Verbier. Im April 1975 gab es die erste, sechs Tage dauernde, Baugeländebesetzung zur Verhinderung der Bauarbeiten in Kaiseraugst. Danach wurde eine Grosskundgebung mit 15’000 Menschen abgehalten. Es wurden verschiedene Aktionen gegen andere AKW-Projekte gegründet und weitere Grosskundgebungen und Pfingstmärsche finden statt. Am 25.6.77 der erste Besetzungsversuch von Gösgen, der durch einen brutalen Polizeieinsatz beendet wurde, was zu Kundgebungen in verschiedenen Städten führte. Es folgen etliche weitere Anti-AKW-Anschläge des radikalen antikapitalistischem Flügels (auch mit der Jugend- und StudentInnenrevolte der `60jahre zusammenhängend), aber auch die Institutionalisierung der Bewegung (Wählerstimmenfang, Abgrenzung von den „TerroristInnen“). Nichtsdestotrotz haben militante Aktionen immer Massenaktionen ermutigt, begleitet oder vorweggenommen. Z. B. Anschläge gegen die SBB (Schweizerische Bundesbahnen) waren der Auftakt zu öffentlichen Blockadeaktionen. Und der Anschlag gegen den Leibstadt-Transformator in Genf das Signal zur ein Jahr später stattgefundenen Blockade des Ersatztrafos. Auch die Anschläge gegen den Informationspavillon in Kaiseraugst und gegen Gösgen am Tag nach der Erteilung der Betriebsbewilligungen erhielten die Sympathie des Volkszornes. Zu den letzten Anschlägen zählen die innerhalb einer Woche gefällten Meteomasten von Gösgen und Graben.
Am 17. Dezember 1981 brach Marco Camenisch zusammen mit einigen italienischen Mitgefangenen aus dem Gefängnis Regensdorf aus, wobei ein Aufseher getötet und ein anderer verletzt wurde. Während zehn Jahren lebt Marco Camenisch im Untergrund, setzt seine antinukleare Aktivität und schreibt Artikel für die anarchistische Presse. Dezember 1989: ein Zöllner an der italienisch-schweizerischen Grenze wird getötet, und sofort erklären die Medien und die Behörden Marco Camenisch zum Täter. Marco Camenisch hat diese Anklage immer zurückgewiesen. Die lange Flucht von zehn Jahren wurde am 5. November 1991 durch eine gewöhnliche Ausweiskontrolle in der toskanischen Provinz Massa unterbrochen. Die dumme Reaktion eines Karabiniere auf Marcos gezogene Pistole hat einen Schusswechsel zur Folge, ein Karabiniere wird verletzt, und Marco wird an beiden Beinen angeschossen und, an der Flucht gehindert, verhaftet.
Er verweigert jegliche Zusammenarbeit mit der Justiz und wird im Mai 1992 für die Schiesserei mit den Carabinieri und für einen Sprengstoffanschlag gegen einen Masten der Hochspannungsleitung La Spezia-Acciaiolo, womit Atomstrom aus Frankreich importiert wird, zu 12 Jahren verurteilt. Was für den italienischen „Terrorismus-Tarif“ eine relativ gelinde Strafe war. Diese relative Vorsicht der lokalen Behörden war der historischen und damaligen grossen Verwurzelung des militanten Widerstandes in einer mit Nato-Militärbasen und Kriegsindustrie voll gestopften Gegend zu verdanken. Z.B. wurde kurz nach und am Ort seiner Verhaftung ein saisonal leer stehendes Luxushotel mit dem Gebot nach Gewährleistung seiner Unversehrtheit gesprengt. Historisch ist dort die starke ArbeiterInnen- (Marmorindustrie) und Partisanenbewegung und Carrara als „Hochburg des Anarchismus“ bekannt. In der Gegend war auch eine starke Kolonne der Brigate Rosse präsent, eine der wenigen wovon die Repression nur wenige Militante aufdecken und verhaften konnte. In die Periode seiner Verhaftung gehörten auch die Ökomilitanz und der sog. „Ökoterrorismus“ zu den einheimischen Volkswiderständen. So die grossen Mobilisierungen gegen die Fabrik des Chemiemultis Montedison in Marina di Carrara, der Anfang der `90iger Jahre mit einem schlimmen Unfall das Gebiet massiv mit Dioxin und anderen Giften verseucht hat. Oder der Widerstand gegen die verschiedenen im Gebiet gebauten oder geplanten Abfallverbrennungsanlagen und gegen die elektromagnetische Verseuchung durch die oben genannte Hochspannungsleitung. Diese wurde von La Spezia durch Massa-Carrara und die angrenzende Versilia bis nach Pisa und oft sehr nahe an Häusern, Ortschaften und Gehöften gebaut. Ein Verwaltungsgericht verfügte zwar deren „Ausschaltung“ jedoch mit den üblichen „Ausnahmebewilligungen“ um sie trotzdem voll betreiben zu können. Was zu wiederholten „Abschaltungen“ durch Mastensprengungen führte. Es gab Widerstand auf den Strassen und militante Aktionen gegen die spekulative Räumung des historischen Sitzes der AnarchistInnen im Zentrum Carraras, wo z.B. zwei gepanzerte Geldtransporter der Sicherheitsfirma, die den geräumten Sitz bewachte, auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium Carraras gesprengt wurden. Dann gab es eine lange Reihe von gesprengten Luxusferienvillas in Meeresnähe als Teil des Volkskampfes gegen die touristisch-spekulative urbane Restrukturierung, die mit massivem Wohnraumverlust und massenhaften Räumungsandrohungen für die arbeitende Bevölkerung einhergingen.
Nach Verbüssung der Strafe wird Marco Camenisch im April 2002 für die acht verbleibenden Jahre seiner ersten Verurteilung sowie für den Prozess wegen der Flucht und der Schiesserei am Zoll an die Schweiz ausgeliefert. Von Mai 2002 bis 2004 dauert dann das Verfahren gegen ihn und der Prozess – Anlass für eine breite Solidaritätskampagne – wurde mit dem Freispruch in Sachen Tod des Gefängnisaufsehers und mit der Verurteilung zu 17 Jahren für den Tod des Zöllners abgeschlossen. Diese Verurteilung ist auf fehlende „Reue“ und seine entschlossene Bekennung zur offensichtlichste immer dringenderen Notwendigkeit des revolutionären Umsturzes der kapitalistisch-imperialistischen Weltordnung zurückzuführen. Diese 17 Jahren „Zusatzstrafe“ wurden unter Verletzung (im spezifischen Fall) ihres eigenen Strafgesetzbuches ausgesprochen. Im März 2007 muss die Strafe auf die im spezifischen Fall juristisch mögliche Höchstbemessung von 8 Jahren herabgesetzt werden, was insgesamt 30 Jahre Knast mit Strafende Mai 2018 bedeutet. Im Gefängnis nimmt Marco trotzdem an den Kämpfen der sozialen und politischen Gefangenen teil und vermittelt weiter die Notwendigkeit des solidarischen Widerstandes gegen dieses Herrschaftssystem. Er spielt eine aktive Rolle beim Zusammenbringen verschiedener Kampfsituationen (anarchistische Zirkel, Kollektive von UmweltschützerInnen und mit Gruppen, welche die Internationale Rote Hilfe aufbauen) und im Aufbau von starken Beziehungen, von Solidarität und Nähe. Auch dadurch haben sich um Marco, in vielen Initiativen und solidarischen Momenten, verschiedene und zahlreiche Situationen und Szenen nicht nur in Italien sondern auch auf internationaler Ebene angenähert und mobilisiert. Darunter auch viele GenossInnen, die ihn nicht nur wegen der Affinität des Denkens gekannt haben, sondern die auch als FreundInnen, Geschwister und LebensgefährtInnen mit ihm sowohl glückliche als auch schwierige Zeiten geteilt haben. In diesen Jahren stand Marco immer auf unserer Seite, denn trotz der körperlichen Trennung lebt seine Anwesenheit in den Kämpfen fort. Seine Stimme, sein Denken, seine anhaltende wichtige Übersetzungsarbeit, seine vielen Beiträge und solidarischen Hungerstreiks vermitteln eine Solidarität, die, mit einer fast weltweiten Vernetzung der Kommunikation und praktischen Solidarität mit revolutionären Gefangenen, frei von ideologischer Abschottung und Dogmatismus ist.
Seine zahlreichen Texte trugen und tragen immer noch zum Wachstum und zur Stärkung eines Verlaufes im Kampf gegen jede Form von Unterdrückung und Ausbeutung zur Verteidigung von Mensch, Erde und aller Lebewesen bei.
Er ist einer der GenossInnen, die sich ihrer Gefangenschaft und dem Voranschreiten dieses Herrschaftssystems nie ergeben haben und nie resignieren. Auch er hat seinen revolutionären Weg nie verleugnet, und seine Kohärenz und Klarheit auch in einer Epoche der armseligen menschlichen Beziehungen und politischen Substanz nie der opportunistischen Beliebigkeit geopfert.
Und gerade all das möchte die Macht zerstören, nämlich seine grünanarchistische und immer aufrechte Identität, die Zuneigungen und das ganze weite Netz an internationalen Kontakten und Beziehungen mit zahllosen und verschiedenen Kampfsituationen, die sich um ihn herum gebildet haben.
Der sehr harte Preis, den Marco in all diesen Jahren bezahlt hat und weiter zahlt, ist der Preis, den jene revolutionären Gefangenen in allen Knästen der Welt bezahlen, die ihre Beherztheit im Kampf gegen jegliche Herrschaft und Ausbeutung aufrechterhalten.
Er wäre schon seit einigen Jahren zu einigen gesetzlichen Lockerungen wie Urlaubstage berechtigt. Diese werden ihm beharrlich verweigert. Die Tatsache, dass er nicht abschwört, wird offen geltend gemacht um diese Ablehnung zu rechtfertigen. Marco bezeichne sich nach wie vor als Anarchist und vertrete die Meinung, dass die Gesellschaft sich nach wie vor im Krieg befinde, so eine offizielle Begründung der Behörden.
Es wird dringend und notwendig, dass wir noch einmal zusammenstehen und Kräfte sammeln, mit der Bewusstheit, dass nur weit reichende internationale Mobilisierungen auf allen Ebenen des Kampfes zum Erfolg führen und den nicht nur schweizerischen sondern international gefahrenen Kurs der Vernichtung unserer gefangenen GenossInnen durch Feindstrafrecht umkehren kann. Marco und alle anderen müssen raus aus dem Knast! Und Marco und alle anderen weltweit wieder frei unter uns zu fordern, heisst nach dreißig Jahren immer noch und immer stärker und vereinter gegen Herrschaft und Ausbeutung weiterzukämpfen.